Zum Notruf-Versagen in Hanau am 19.02.20 +++ Kausalität des Organisationsverschuldens für den Tod des Vili Viorel Păun ist eindeutig gegeben +++ Rechtsanwalt der Familie Păun reicht bei Staatsanwaltschaft detaillierte Beschwerde gegen die angekündigte Einstellung der Ermittlungen ein
Allgemein
Vater des Mörders vom 19. Februar 2020 wegen rassistischen Beleidigungen verurteilt
Kommentar zum Prozess am 6.10.2021
Gestern wurde der Vater des Mörders vom 19. Februar 2020 wegen dreifacher Beleidigung zu einer Geldstrafe verurteilt. Am schwersten ins Gewicht fielen dabei die rassistischen Beleidigungen gegen Teilnehmer:innen einer Kundgebung in Hanau-Kesselstadt Ende Dezember 2020, darunter mehrere Angehörige der Ermordeten. Es ist gut, dass der Vater des Attentäters wegen den rassistischen Beleidigungen vom Gericht verurteilt wurde. Wichtige Fragen bleiben aber weiter unbeantwortet.
Zum Gerichtsverfahren am 6. Oktober wegen Beleidigung gegen den Vater des Mörders vom 19.2.20
Pressemitteilung 05.10.2021 – Zum Gerichtsverfahren am 6. Oktober wegen Beleidigung gegen den Vater des Mörders vom 19.2.20: Am morgigen Mittwoch, dem 6.10.2021, findet in Hanau ein Amtsgerichtsverfahren wegen Beleidigung gegen den Vater des Mörders vom 19.2.20, statt. U.a. ist er wegen rassistischer Beleidigungen von Teilnehmer:innen einer Kundgebung in Kesselstadt Ende Dezember 2020 angeklagt.
Pressemitteilung: Untersuchungsausschuss Hanau: Kritische Aufarbeitung muss mit Angehörigen und Überlebenden beginnen!
Pressemitteilung Hanau, 24.09.21
Untersuchungsausschuss zu Hanau: Kritische Aufarbeitung muss mit Angehörigen und Überlebenden beginnen! Hinterbliebene und Initiative 19. Februar Hanau fordern die Grünen auf, ihr Wort zu halten
Am Montag, dem 27.09.2021, entscheidet der neu gegründete Untersuchungsausschuss zu dem rassistischen Terroranschlag in Hanau über die Reihenfolge, in der Zeug*innen geladen werden. Und damit über die Frage, wer bei der ersten öffentlichen Sitzung am 3. Dezember als Erstes aussagen wird.
CDU und Grüne haben beantragt, mit der Anhörung eines Polizeiexperten zu beginnen. Dies steht im Gegensatz zur ausdrücklichen Zusage der Grünen gegenüber den Angehörigen, dass sie deren Forderung nachkommen wollen, als Erste im Untersuchungsausschuss zu reden. Die Angehörigen befürchten, dass die Grünen ihr Versprechen nicht einhalten.
Newroz Duman von der Initiative 19. Februar erklärt die Forderung: „Ohne das beständige Engagement der Angehörigen würde es diesen Untersuchungsausschuss nicht geben. Die Angehörigen haben immer wieder auf die offenen Fragen vor, während und nach der Tat hingewiesen. Die Aufklärung muss die Opfer in den Mittelpunkt stellen. Deshalb ist es nur folgerichtig ihre Angehörigen und Überlebenden zuerst zu laden. Ihre Erlebnisse und Beobachtungen sind für diesen Untersuchungsausschuss zentral.“
Armin Kurtović, der Vater des ermordeten Hamza Kurtović, appelliert an die Abgeordneten: „Vertreter der Grünen auf Landes- und Bundesebene haben uns Angehörigen zugesagt, es sei selbstverständlich, dass die Familien der Opfer mit ihren Beobachtungen und Erfahrungen für diesen Ausschuss bedeutend sind und als Erstes gehört werden müssen. Jetzt gilt es, Wort zu halten.“
Pressekontakt für Rückfragen:
Initiative 19. Februar Hanau – presse@19feb-hanau.org
#saytheirnames — Neues aus dem ,,Laden“
Nr. 4 —September/Oktober 2021
Liebe Freundinnen und Freunde,
Mit über 20 Angehörigen, Überlebenden und Unterstützer:innen haben wir uns aus Hanau am 4. September 2021 an der Unteilbar-Demonstration in Berlin beteiligt. Bis zu 30.000 Menschen aus verschiedenen sozialen Bewegungen waren dort auf der Straße, um wenige Wochen vor den Bundestagswahlen ihre Forderungen für eine gerechtere Gesellschaft gemeinsam in die Öffentlichkeit zu bringen. Im Redeblock zum Kampf gegen Rassismus war dann auch Hanau auf der Hauptbühne der zentralen Abschlusskundgebung vertreten.
Auf der folgenden Seite dokumentieren wir die Rede aus Hanau und anschließend haben wir wieder aktuelle Informationen zu unseren vier Forderungen zusammengestellt: „Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung und Konsequenzen“. Dazu vorab schon die Bitte, Euch Freitag, den 3. Dezember 2021, vorzumerken und freizuhalten. Denn an diesem Tag wird im Wiesbadener Landtag die erste öffentliche Sitzung des Untersuchungsausschusses zu Hanau stattfinden. Wir wollen dann mit möglichst vielen Menschen in Wiesbaden zu einer begleitenden Kundgebung zusammen-kommen. Siehe dazu das Kapitel zur Aufklärung.
Den vollständigen Newsletter als PDF zum Download findet ihr wie gewohnt HIER
Rede von Said Etris Hashemi und Mirkan Unvar am 4. September in Berlin
Etris: Stell dir vor du triffst deine Jungs wie jeden Abend und dein ganzes Leben verändert sich von einer auf die andere Sekunde. Nichts ist mehr, wie es vorher war. Ich habe meinen Bruder verloren, ich habe meine Freunde verloren, fast habe auch ich mein Leben verloren.
Mirkan: Auch ich habe an diesem Abend meinen Bruder verloren. Insgesamt haben 9 Familien ihre Liebsten verloren. Der Täter kam und schoss ohne Vorwarnung. Kein Wort. Er kam, um zu töten. Weil manche von uns dunkle Haare und dunkle Augen haben.
Etris: Er schoss auf uns, weil wir für ihn Fremde waren. Was heißt eigentlich Fremde? Wir sind hier geboren. Wir sind hier aufgewachsen. Wir kommen von hier. Und selbst wenn nicht. Was macht das für einen Unterschied. Wo kommst du eigentlich her?
Mirkan: Kesselstadt. Wer entscheidet über ein Menschenleben. Ich kenne Rassismus sehr gut. Lange vor dieser Tat. Kennst du ihn auch? Hast du ihn schon erlebt? Als Witz? Als Beleidigung? Als Angriff? Als Blick? Als Geste?
Ich kenne ihn von der Supermarktkasse. Ich kenne ihn bei der Wohnungssuche. Ich kenne ihn in der Schule. Im Bus, wenn die Menschen nach ihrer Handtasche schauen. Ich kenne ihn, wenn ich in meinem Auto sitze. Und ich kenne ihn, wenn ich angehalten werde. Wie oft wurdest du von der Polizei kontrolliert? 10 Mal, 50 Mal, 100 Mal. Ich habe aufgehört zu zählen.
Etris: Rassismus endet mit einem Schuss. Hanau. Seit eineinhalb Jahren kämpfen wir tagtäglich um Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung und Konsequenzen. Die Erinnerung können wir nur mit Eurer Solidarität aufrechterhalten. Die Perspektive der Opfer steht dabei im Zentrum. Die Menschen sollen sich an die Namen der Ermordeten erinnern, an das was geschehen ist und was nicht verhindert wurde.
Mirkan: Auch wir haben erlebt, wie die Opfer nach dem Anschlag im Stich gelassen wurden – so wie so viele andere Opfer rechter Gewalt vor uns. Wir fordern endlich Gerechtigkeit. Den meisten ist bekannt, dass wir in den vergangenen 18 Monaten von Opfern eines Anschlags zu Ermittlern werden mussten. Nur durch unsere eigenen Recherchen wurde die Kette des Versagens der Behörden und die vielen Fehler aufgedeckt. Nun müssen Konsequenzen folgen. Wir haben aus der mangelnden Aufklärung der vielen anderen rassistischen und antisemitischen Anschläge gelernt. Allein aus Respekt vor der Erfahrung vieler anderer Betroffener sagen wir: wir werden keine Ruhe geben, solange sich die Verantwortlichen davor drücken, die Verantwortung zu übernehmen.
Etris: Für: Gökhan, Sedat, Said Nesar, Mercedes, Hamza, Vili Viorel, Fatih, Ferhat, Kaloyan. Wir werden sie nie vergessen!
ERINNERUNG
Rückblicke
Am 19. und 20. August gab es in Dietzenbach und in Erlensee jeweils eigene Gedenkaktionen für Sedat Gürbüz und Kaloyan Velkov. Sedat war in Dietzenbach aufgewachsen, Kaloyan hatte in Erlensee gewohnt. In Dietzenbach wurde eine Gedenkstele eingeweiht, in Erlensee eine Gedenktafel. Auf beiden Gedenksteinen sind alle Opfer des rassistischen Terroranschlages von Hanau eingeschrieben, auf beiden Kundgebungen wurden alle Namen der Ermordeten genannt.
Say their names!
Ausblicke
Am 19. September 2021 sind die Angehörigen und Überlebenden zum Heimspiel des Hanauer Sportclub 1960 e.V. ins Herbert-Dröse-Stadion eingeladen. Der Verein möchte die Familien in ihrem Gedenken unterstützen und mithelfen, dass die Namen der Opfer niemals vergessen werden.
Gleichzeitig hat sich in den letzten Wochen das Auswahlverfahren zum zentralen Mahnmal weiterentwickelt. Fünf Modelle wurden nun auch der
Öffentlichkeit vorgestellt. Noch im Oktober soll auf Grundlage der Empfehlung der Jury der Familien eine Entscheidung getroffen werden, damit das Mahnmal – so der Plan der Stadt Hanau – zum zweiten Jahrestag am 19. Februar 2022 eingeweiht werden kann. Neben der finalen Auswahl geht es insbesondere auch um den Standort des Mahnmals. Die Angehörigen favorisieren sehr eindeutig den Marktplatz als zentralen Ort des Gedenkens und alle sind aufgefordert, die Familien in dieser Forderung zu unterstützen.
GERECHTIGKEIT
Im Mai 2021 hatten wir im hessischen Landtag über 53.000 Unterschriften für einen Opferfond für die Hanauer Familien überreicht. Vor dem Hintergrund, dass nach 18 Monaten – also im August 2021 – bei einigen Familien der Bezug von Krankengeld wegfällt, hatten die Abgeordneten zugesagt, dass nun endlich schnell und unbürokratisch geholfen würde. Im Juli 2021 wurde dies in offiziellen Pressemitteilungen aus Wiesbaden nochmals bestätigt. Doch jetzt ist es Mitte September 2021 und noch immer sind keine Auszahlungen zur finanziellen Absicherung der Familien in Sicht.
Es bleibt beschämend: nach fast 19 Monaten ist noch immer keine finanzielle Unterstützung aus Wiesbaden für die Angehörigen der Opfer von Hanau überwiesen worden.
AUFKLÄRUNG
Untersuchungsausschuss
Der Untersuchungsausschuss zu Hanau (UNA 20/2) hatte noch im Juli 2021 mit ersten nicht-öffentlichen Sitzungen begonnen, die 15 Abgeordneten (5 von der CDU, jeweils 3 von Grünen und SPD, 2 von der AfD, und jeweils 1 von FDP und Linke) sind dabei, den Ablaufplan für die 10 zentralen Fragen zu strukturieren und sich über die Reihenfolge der Befragung von Zeug:innen zu verständigen. SPD und Linke wollen der berechtigten Forderung der Angehörigen nachkommen, dass diese zuallererst gehört werden. Die Grünen hatten dies zunächst ebenfalls versprochen, wollen jetzt aber offensichtlich mit der CDU als ersten Sachverständigen einen „Polizeiexperten“ aus NRW anhören. Einmal mehr muss jetzt auf die Grünen Druck aufgebaut werden, ihr Versprechen einzuhalten.
Jedenfalls ist Freitag, der 3. Dezember 2021, der erste öffentliche Sitzungstag, zu dem die Initiative 19. Februar mit den Familien und Überlebenden mobilisieren werden. Alle neun Familien haben einen Platz im UNA-Saal, mit allen anderen wollen wir so nah wie möglich am Landtag eine Kundgebung organisieren und damit auch von außen die Medien informieren.
Der Untersuchungsausschuss wird womöglich die einzige institutionelle Chance bleiben, die Kette des Versagens in Hanau vor, in und nach der Tatnacht kritisch aufzuarbeiten. Er wird über den zweiten Jahrestag am 19.02.22 hinaus noch mindestens über das gesamte Jahr 2022 andauern. Mit einer Begleitkampagne wollen wir an möglichst vielen Sitzungstagen so stark und so laut wie möglich lückenlose Aufklärung sowie die Übernahme der politischen Verantwortung für das vielfache Versagen einfordern.
Zum Notausgang
Wie schon beim Desaster mit dem Notruf will die Hanauer Staatsanwaltschaft nun auch beim verschlossenen Notausgang im zweiten Tatort kein Ermittlungsverfahren einleiten. Die Anwälte:innen der Angehörigen werden hiergegen allerdings ebenfalls Beschwerde einlegen. Es bleibt zunächst ein Skandal, dass alles Versagen überhaupt nur bekannt und zum öffentlichen Thema wurde, weil die Familien selbst ermittelt und Anzeigen gestellt hatten. Und nun wird versucht, Zuständigkeiten solange hin- und herzuschieben bzw. eindeutig beschriebene Vorgänge mit neuen Zeugenaussagen so zu relativieren, dass am Schluss niemand mehr verantwortlich ist. Offensichtlich soll vermieden werden, dass die Kette des Versagens juristisch aufgearbeitet werden muss. Wir werden aber alle Widerspruchs-möglichkeiten ausschöpfen und weiter öffentlich thematisieren, was hier vertuscht werden soll.
KONSEQUENZEN
Wir wissen, dass sich wenig bis nichts ändern wird, wenn wir nicht von unten immer wieder Dampf machen. „Hanau“ hat bereits einiges an öffentlichem Druck erreicht, doch über vermehrte Mitleidsfloskeln hinaus gab es kaum konkrete Konsequenzen. Es gab in den letzten Monaten viele Besuche seitens der Politik und viel Versprechungen doch es folgen keine Taten. Weder in den Behörden, noch in bei den politischen Verantwortlichen wird sich etwas ändern, wenn wir nicht weiterhin Druck in der Öffentlichkeit machen. Bundesweit haben nicht weniger, sondern noch mehr Rassisten legale Waffenscheine erhalten. Und in der Hanauer Polizeistation sind – wie im April 2021 nachweislich dokumentiert – Beamte im Dienst, die beleidigen und beschimpfen, statt bedrohten Menschen bei der Anzeige zu helfen. Schließlich das von Rassisten durchsetzte Frankfurter SEK, das 2021 nur zufällig aufgeflogen ist, aber am 19. Februar 2020 in Hanau am Täterhaus im Einsatz war. Eine „Zäsur“, also einschneidende Veränderungen sehen definitiv anders aus.
Doch es gibt uns Mut, die Solidarität, in den vielen Anschreiben an und den zahlreichen Besuchen in der Initiative 19. Februar zu erleben, dass in immer mehr Städten Initiativen von Betroffenen sowie Solidaritätskreise entstehen und sich verstärken und vernetzen. Mit ihnen wollen und müssen wir die nachhaltigen Strukturen schaffen, um Konsequenzen und wirkliche Veränderungen zu erzwingen.

#saytheirnames — Neues aus dem ,,Laden“
Nr. 3 —Juli 2021
Liebe Freund:innen,
im dritten Newsletter wollen wir Euch auf den nächsten Seiten wieder über Aktuelles zu unseren vier Forderungen nach Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung und Konsequenzen informieren. Mit der Durchsetzung des Untersuchungsausschusses im Landtag in Wiesbaden sowie mit der Zusage, dass beim hessischen Opferfond die Hanauer Familien besondere Berücksichtigung finden sollen, haben die starken und nachhaltigen Stimmen aus Hanau zwei kleine Erfolge erkämpft.
Doch bevor wir dazu und weiterem berichten, blicken wir kurz zurück auf den 19. Juni, an dem sich ca. 700 Radfahrende zur gemeinsamen Abschlusskundgebung auf dem Freiheitsplatz versammelt hatten. Trotz der Hitze an diesem Tag haben sich Radgruppen von sieben Startpunkten aus auf den Weg gemacht und damit einen beeindruckenden „Ride to Remember“- Stern für Hanau geformt. In Gastreden des Hanauer Oberbürgermeisters, eines Vertreters der IG Metall sowie einer Aktiven vom Dachverband der Opferberatungsstellen wurden die Forderungen der neun Familien unterstützt, während diese selbst das Wort ergriffen und ihre Anklagen und Kritiken am Versagen der Behörden und Polizei vor, in und nach der Tatnacht erneuert haben.
Alle Redebeiträge können auf dem Youtube-Kanal der Initiative 19. Februar nachgehört werden:
https://www.youtube.com/watch?v=MYnJ7Y63Gvg
Den vollständigen Newsletter als PDF findet ihr hier zum Download.
Erinnerung
„In Erinnerung an Euch werden wir die Zukunft gestalten“
JUZ k.town Juni 2021
Gedenktafel am JUZ k.town für die Opfer des rassistischen Anschlags vom 19. Februar 2020
Seit Oktober 2020 arbeiten ca. 40 Jugendliche des JUZ k.town an einem würdevollen Gedenken an die ermordeten jungen Menschen. Viele der Besucher:innen haben am 19. Februar 2020 Angehörige und Freunde verloren. Diese Verbundenheit der JUZ Besucher:innen und der Mitarbeiter:innen soll so gezeigt werden. Die Gedenktafel wurde am 22. Juni gemeinsam von Oberbürgermeister Kaminsky und Jugendlichen aus dem JUZ feierlich enthüllt. Dazu waren neben den Jugendlichen Angehörige der Familien der Opfer, Vertreter:innen der Kirchengemeinde Kesselstadt und des Ortsbeirats Kesselstadt sowie einige Nachbar:innen gekommen.
Dies ist das erste sichtbare Ergebnis eines umfangreichen Beteiligungsprozesses mit Jugendlichen. In Planung sind weitere Umgestaltungen auf dem Außengelände des JUZ. Diese sollen symbolisieren, dass es dem rassistischen Mörder nicht gelungen ist, die Werte, für die das JUZ steht, zu zerstören: Gemeinschaft, Toleranz, Vielfalt und eine gelebte Willkommenskultur. Es wird eine großflächige überdachte Sitzgruppe entstehen – für Treffen und Begegnung von Jugendlichen auch außerhalb der Öffnungszeiten. Weiter soll der Eingangsbereich eine Neugestaltung mit Graffiti bekommen und eine Wand mit den Namen aller JUZ-Besucher:innen, auf kleinen selbstgestalteten Metallplatten, geschmückt werden. Dies soll ebenfalls Vielfalt und Zusammengehörigkeit ausdrücken. Start hierfür sind die Herbstferien 2021.
Text: JUZ Kesselstadt
Gerechtigkeit
Ein überfälliges Signal der Verantwortungsübernahme: Hanauer Familien sollen Geld aus Allgemeinem Opferfonds des Landes Hessen erhalten
Wie aus Wiesbaden bekannt wurde, sollen die Familien der Opfer des rassistischen Terroranschlags vom 19. Februar 2020 in Hanau Unterstützung aus dem neuen allgemeinen hessischen Fonds für Opfer von Gewalt beantragen können.
„Wir begrüßen, dass sich die demokratischen Parteien im hessischen Landtag 17 Monate nach den neun rassistisch motivierten Morden endlich dazu durchgerungen haben, die Hinterbliebenen und Verletzten finanziell zu unterstützen. Denn die Lage der Familien wurde angesichts auslaufender Krankengelder immer prekärer und bislang hatten die Familien vom Land Hessen keinerlei finanzielle Unterstützung erhalten “, sagt Newroz Duman von der Initiative 19. Februar. „Wichtig ist jetzt vor allem, dass auf die öffentliche Ankündigung eine schnelle und unbürokratische Verfahrensweise implementiert wird, die die Betroffenen nicht zu Bittsteller*innen degradiert.“
Robert Kusche, Vorstandsmitglied im VBRG e.V. und Geschäftsführer der Opferberatung SUPPORT, ergänzt: „Bei dem öffentlichen Versprechen, die Hinterbliebenen und Verletzten des rassistischen Attentats von Hanau zu unterstützen, handelt es sich um ein schon längst überfälliges Signal der Verantwortungsübernahme durch das Land Hessen für die zahlreichen Polizei- und Behördenfehler im Kontext des Attentats vom 19.2.2020“.
Jetzt sei es wichtig, dass das Geld zeitnah, unbürokratisch und unabhängig von anderen staatlichen Leistungen ausgezahlt wird. „Das Land Hessen ist in der Verantwortung dafür, dass die Betroffenen nicht zusätzlich zu dem traumatischen Verlust ihrer Angehörigen mit finanzieller Verarmung konfrontiert sind.“
Vor mehr als einem halben Jahr, im Dezember 2020 hatten die Initiative 19. Februar, der Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG e.V.) und die hessische Opferberatung response in Trägerschaft der Bildungsstätte Anne Frank erstmals Parteienvertreter:innen in Wiesbaden angesprochen und angeregt, dass Hessen dem Beispiel des Opferhilfsfonds in Thüringen folgen solle. Die Thüringische Landesregierung hatte mit einem Fonds für die Hinterbliebenen der NSU-Mordserie die Verantwortung für die Behördenfehler des Freistaats Thüringen übernommen.
Nachdem die Verhandlungen ins Stocken gerieten, hatten über 53.000 Menschen eine Petition für einen Rechtsterrorismus-Opferfonds in Hessen unterschrieben. Die Initiative 19. Februar und der VBRG e.V. hatten die Unterschriften am 8. Mai 2021 im Wiesbadener Landtag an Abgeordnete von CDU, SPD, Grüne, Linke und FDP übergeben und dringend eine schnelle und unbürokratische Umsetzung angemahnt.
Auszug aus der Pressemitteilung vom 8.7.21, hier der gesamte Text:
https://19feb-hanau.org/2021/07/08/ein-ueberfaelliges-signal-der-verantwortungsuebernahme-hanauer-familien-sollen-geld-aus-allgemeinem-opferfonds-des-landes-hessen-erhalten
Aufklärung
1. Untersuchungsausschuss zu Hanau beschlossen!
Als die Familien im Sommer 2020 erstmals einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss (UA) für Hanau zur Sprache brachten, hatten auch uns wohlgesonnene Parteienvertreter:innen abgewunken. Dazu gebe es zu wenig Belege für Behördenversagen und das hessische Parlament sei sowieso überfordert wegen des Ausschusses zu Lübcke. Nun, am 7. Juli 2021 haben in Wiesbaden alle (!) Fraktionen außer der AfD – also auch Grüne und die CDU – für die Einrichtung des UA für Hanau gestimmt. Sogar Innenminister Beuth musste in seiner Rede Unterstützung für den UA zusagen. Diese veränderte Situation ist alleine dem öffentlichen Druck zu verdanken, den die Familien und Überlebenden mit ihren starken Stimmen in den Medien und auf Kundgebungen entfacht haben. Die Ansage, dass wir „keine Ruhe geben und eine Zäsur von unten erzwingen müssen“, trägt erste Früchte.
Die zentralen Fragen für den UA wurden von der hessischen SPD in enger Absprache mit den Familien, Anwält:innen und der Initiative 19. Februar erarbeitet. Linke und FDP hatten sofort mitunterzeichnet. Und nun wird es ab September 2021 darauf ankommen, mit einer Begleitkampagne dieses parlamentarische Instrument der Aufklärung bestmöglich zu nutzen. In unserer Pressemitteilung dazu haben wir formuliert: „Wir erhoffen keine Wunder und es wird ein langes Verfahren werden. Aber wir glauben, dass der Untersuchungsausschuss angesichts des fortgesetzten Schweigens der Behörden eine wichtige, zusätzliche Möglichkeit bietet, um unserem Ziel nach lückenloser Aufklärung Nachdruck zu verschaffen.“
Unsere Pressemitteilung findet sich hier:
https://19feb-hanau.org/2021/07/07/pressemitteilung-initiative-19-februar-begruesst-untersuchungsausschuss-zu-hanau/
2. Das Notruf-Desaster
Es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass die Staatsanwaltschaft Hanau zwei Tage vor der Entscheidung für den Untersuchungsausschuss mit einer 24-seitigen Erklärung zum Notruf in die Öffentlichkeit ging. Unter der Überschrift „Einleitung eines Ermittlungsverfahrens betreffend den Vorwurf der Nichterreichbarkeit des polizeilichen Notrufes am 19.02.2020 abgelehnt“ sollte offensichtlich medienwirksam signalisiert werden, zu einem der schweren Vorwürfe die Polizei Hanau aus der Schusslinie zu nehmen. Doch die detaillierten Ausführungen der Staatsanwaltschaft könnten noch nach hinten losgehen. Denn im Grunde werden zunächst alle unsere Ermittlungen und Anklagen zum technischen Versagen wie auch zur personellen Unterbesetzung bestätigt. Dass eine einzelne Telefonistin der Polizei vor Gericht gebracht wird, war nicht das Ziel der Anzeigen und Anklagen. Vielmehr geht es um ein Organisationsversagen der Polizeileitung in Hanau, des Präsidiums in Südosthessen und des Hessischen Innenministeriums. Und dafür finden sich im bislang noch nicht veröffentlichten Teil der staatsanwaltschaftlichen Ausführungen neue, weitere Belege. Zudem ist deutlich geworden, dass Innenminister Beuth das Parlament und die Öffentlichkeit mit seiner Erklärung zum Notrufversagen im Februar 2021 vorsätzlich getäuscht hat. Dazu verweisen wir auf einen aktuellen Text auf unserer Webseite:
https://19feb-hanau.org/2021/07/13/schlicht-stille-das-notruf-desaster-von-hanau/
Unsere Pressemitteilung findet sich hier:
https://19feb-hanau.org/2021/07/06/pressemitteilung-abgelehnte-einleitung-eines-ermittlungsverfahrens-wegen-nichterreichbarkeit-des-polizeilichen-notrufs/
Konsequenzen!?!
Rassisten entwaffnen! Auch bei der Polizei!!
Nach den vielen Fragen der Familien und Angehörigen zum Polizeieinsatz in der Tatnacht sind nun weitere ungeheuerliche Details ans Licht gekommen:
13 Beamte des Frankfurter SEK, die in Hanau im Einsatz waren, sind aufgrund rechtsextremer Chats vom Dienst suspendiert.
Nach dem NSU 2.0 und der Auflösung des Frankfurter SEK: Innenminister Beuth spricht immer wieder auf Pressekonferenzen über eine nötige ,,Fehlerkultur“ bei der Polizei. Es geht nicht um „Fehler“, wenn Naziposts verschickt werden oder Daten politisch unliebsamer Personen illegal herausgegeben werden oder Waffen aus der Asservatenkammer verschwinden! Es ist kein „Fehlverhalten“, wenn Vorgesetzte die Augen zudrücken und gegen solche Chatgruppen nicht einschreiten. Es geht bei der hessischen Polizei nicht um die Bereinigung von Fehlern, die man sich nur frühzeitig trauen müsste, offen anzusprechen. Im Falle des SEK geht es um bewusste menschenfeindliche Ideologien – von Personen mit Sturmgewehren in der Hand. Diese Beamten gehen sicher nicht bei einer besseren ,,Fehlerkultur“ reumütig zu ihrem Vorgesetzten. Und anstatt frühzeitig bei auch nur kleinsten Tendenzen in eine solche Richtung zu reagieren werden sie zu einem Einsatz bei einem rassistischen Attentat geschickt!
Wieviel würde noch ans Licht kommen, wenn gezielt und sensibilisiert nachgeforscht würde und vielleicht nicht erst beim Verschicken von Inhalten aus der Kategorie Hakenkreuze reagiert würde?
Warum wird nicht schon interveniert bei rassistischen Sprüchen oder herablassenden Aussagen über alle, die nicht ins weiße deutsche Weltbild passen? Solche Tendenzen werden schöngeredet, ignoriert und bagatellisiert und so ein Klima geschaffen, in dem sich Menschen mit rechter Gesinnung sicher fühlen und immer weitergehen.
Man könnte es als den absoluten Gipfel bezeichnen, dass Ministerpräsident Bouffier offenbar ohne schlechtes Gewissens folgende sinngemäße Aussage tätigt: ,,Nur weil sie Mitglied einer solchen Chatgruppe sind, heißt das noch nicht, dass sie ihre Arbeit schlecht machen.“ Allerdings spiegelt es eigentlich nur die Gleichgültigkeit und Ignoranz wieder, mit der Verantwortliche viel zu oft rechtsextremen Umtrieben in ihren Behörden begegnen. Für sie und ihre Familien stellen rechtsextreme Beamte – vermeintlich – vielleicht keine Bedrohung da, sind doch die Führungspositionen in Deutschland immer noch überwiegend mit Weißen besetzt.
Für migrantisierte Menschen bedeutet es im Zweifelsfall, vor der Polizei genau soviel Angst haben zu müssen wie vor einer Notsituation, in der sie diese eigentlich rufen müßten. Dieser Zustand ist unaushaltbar.
Wir fordern die Entwaffnung aller Rassisten- auch der in Uniformen! Diese Leute sind vom Staat höchstpersönlich bewaffnete Nazis!
Pressemitteilung der Initiative 19.Februar zum SEK-Einsatz in Hanau:
https://19feb-hanau.org/2021/06/16/pressemitteilung-13-der-19-rechtsextremen-sek-beamten-waren-in-hanau-im-einsatz/
Und nochmal hier:
„Dazu gehört aus aktuellem Anlass auch der Skandal um das SEK, das Innenminister Beuth unlängst wegen rechtsextremer Chat-Gruppen auflösen musste. „Wir wissen,“ sagt Newroz Duman, „dass der SEK-Chef, der in Hanau den Einsatz am Täterhaus leitete, zum K-71 gehört, also zu der aufgelösten Einheit. Wir wollen jetzt wissen, ob der Einsatzleiter zu den 13 Polizisten gehört, die suspendiert wurden und am 19./20. Februar 2020 in Hanau eingesetzt waren.“ Die Initiative hatte in früheren Veröffentlichungen die um mehrere Stunden verspätete Stürmung des Täterhauses kritisiert.“
https://19feb-hanau.org/2021/07/07/pressemitteilung-initiative-19-februar-begruesst-untersuchungsausschuss-zu-hanau/
Termine
Am 19. Juli findet an den beiden Tatorten in Hanau jeweils ein kleines Gedenken statt. Um 16.00 Uhr in Kesselstadt am Kurt-Schumacher-Platz und um 16.30 Uhr am Heumarkt.
Am 24. Juli findet in Wächtersbach in Erinnerung an das rassistische Attentat vom 22.07.2019 eine Fahrradsternfahrt mit anschließender Kundgebung statt. Das „Intergrationsbündnis 22. Juli – wie l(i)eben Vielfalt“ ruft dazu auf, die Initiative 19. Februar wird auch einen Redebeitrag halten. Beginn der Kundgebung ist um 11.00 Uhr auf dem Messegelände in Wächtersbach.
Am Donnerstag, 19. August, wird in Dietzenbach auf dem Roten Platz eine Gedenkstele für Sedat Gürbüzaufgestellt. Sedat ist in Dietzenbach aufgewachsen.
Einen Tag später, am 20. August, wird in Erlensee am Rathaus eine Gedenktafel für Kaloyan Velkov aufgehängt. Kaloyan hatte in Erlensee gewohnt.
Die genauen Uhrzeiten bitte im Laden in der Krämerstraße 24 erfragen.
Freitag, 20. August
Filmveranstaltung im Laden: „I am Not Your Negro“
Der Film erzählt die Geschichte der Rassendiskriminierung und der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung im 20. Jahrhundert anhand der Lebensgeschichten u.a. von Malcolm X und Martin Luther King jr.
Beginn ist um 21 Uhr im Laden in der Krämerstraße 24.
Für den 4. September mobilisiert das Bündnis „Unteilbar“ für eine bundesweite Großdemonstration nach Berlin. Wenige Wochen vor den Bundestagswahlen sollen zentrale Forderungen „für eine gerechte und solidarische Gesellschaft“ an die kommende Regierung gerichtet werden. Die Initiative 19. Februar und die Familien der Ermordeten aus Hanau wollen gemeinsam nach Berlin fahren und sich mit ihrem Kampf um Gerechtigkeit und Aufklärung an dieser Demonstration beteiligen.
Mehr Informationen hier: https://www.unteilbar.org/berlin-demo-2021/
In Erinnerung an Esther Bejarano
1924 – 2021 – Kämpferin gegen das Vergessen.
“Würdiges Gedenken heißt kämpfen. Wir müssen uns alle erinnern, damit es nicht wieder geschehen kann. Damit noch mehr Menschen gegen menschenverachtende Ideologien aufstehen und sich einsetzen. Heute bin ich örtlich von Euch getrennt. Aber mit meinem Herzen bin ich bei Euch.”
Esther Bejarano am 14.02.2021 in ihrem Gruß an die Angehörigen und Überlebenden in Hanau.
Wir haben viel von Dir gelernt, Esther. Von Deinem offenen Geist, der die Erinnerung an die Vergangenheit lebendig hielt, um nie zu vergessen und um zu verändern. Bis zuletzt warst Du eine Stütze auch unserer Kämpfe gegen das Vergessen. Zuletzt zum Jahrestag des rassistischen Anschlags hast Du uns Grüße geschickt. Heute (10.07.2021) nehmen wir Abschied. In unseren Kämpfen und Herzen wirst Du lebendig bleiben.

Wie der hessische Innenminister Peter Beuth Parlament und Öffentlichkeit vorsätzlich täuscht
Stand: 13.07.2021
Am 11.Februar 2021 gibt Innenminister Beuth im Innenausschuss des hessischen Landtags eine Erklärung ab. Er räumt nach den entsprechenden medialen Veröffentlichungen der Vortage nochmals ein, dass es technische Probleme mit der 110 in Hanau gab. Gleichzeitig täuscht er den Eindruck vor, dass der Notruf in der Tatzeit zunächst mit zwei und dann sogar drei Personen besetzt war.
„Meine sehr geehrten Damen und Herren, die hessische Polizei ist eine gut aufgestellte Polizei. Das hat sie auch vor einem Jahr in Hanau bewiesen. So sind nach dem Eingang des ersten Notrufs bereits nach wenigen Minuten Polizeikräfte am ersten Tatort eingetroffen. Die bei der Polizeistation Hanau I vorhandenen Notruftelefone waren besetzt, und es wurden in der Folge weitere Anrufe angenommen.“ (Seite 15 des Protokolls vom 11.2.2021)
„Zur unmittelbaren Tatzeit haben sich zwei Polizeibeamtinnen der Polizeistation Hanau I sofort mit der Entgegennahme der Notrufe befasst. Zur Unterstützung für den weiteren Einsatzverlauf wurde ein zusätzlicher Polizeibeamter hinzugezogen.“ (Seite 23 des Protokolls vom 11.2.2021)
Zweifel an der personellen Besetzung gab es bereits Ende Januar 2021, als Hessenschau, Spiegel und Monitor erstmals vom technischen Versagen des Notrufs berichteten. Doch der Innenminister widerspricht der Unterbesetzung mit obigen Zitaten und täuscht damit vorsätzlich den Innenausschuss und die Öffentlichkeit.
Mit der Veröffentlichung der Staatsanwaltschaft Hanau am 5. Juli 2021 lässt sich der Ablauf in den entscheidenden 10 Minuten nun weitgehend rekonstruieren. In der Tatzeit zwischen 21:55 und 22:05 war – von einem Notruf mit 16 Sekunden abgesehen – nur eine Beamtin im Einsatz, die in dieser entscheidenden Phase insgesamt nur zwei Notrufe entgegennehmen konnte. Alle anderen Notrufe scheiterten, darunter auch drei Versuche von Vili Viorel Păun.
Die besagte Polizeibeamtin saß durchweg an der einen der beiden verfügbaren Leitungen und nahm um 21:56:34 einen ersten Notruf vom ersten Tatort an, der ca. drei Minuten lang dauerte. Ein zweiter Beamter nahm parallel um 21:56:42 auf der zweiten Leitung einen weiteren Notruf vom Heumarkt entgegen. Dieses Gespräch endete allerdings bereits nach 16 Sekunden, sofort danach verließ dieser Polizist den Notrufplatz und fuhr mit einem Kollegen zum Tatort.
Ab 21:56:58 – und damit in den entschiedenen nachfolgenden Minuten – war also nur noch eine der zwei Notrufleitungen von einer Beamtin besetzt, die zweite Leitung blieb komplett unbesetzt. Wer hier anrief, hörte entweder ein unbeantwortetes Frei-Zeichen, ein Besetzt-Zeichen oder – wie die Staatsanwaltschaft in ihrer Veröffentlichung vom 5. Juli 2021 formuliert: „schlicht Stille“.
Um 21:57:54 Uhr versuchte Vili Viorel Păun das erste Mal, die 110 zu erreichen. Wie sich durch Video-Aufzeichnungen rekonstruieren lässt, tätigt Vili diesen ersten Anruf eine knappe halbe Minute, bevor er – den Täter nach Kesselstadt verfolgend – den Tunnel am Hanauer Westbahnhof durchfährt. Das heißt, dass dieser erste Anruf in der Herrnstrasse oder vom Kanaltorplatz aus stattfand, als Vili den Täter zunächst verfolgt und versucht hatte, dessen Abfahrt mit seinem Auto zu blockieren.
Hätte Vili Viorel Păun hier den Polizei-Notruf auf der nicht besetzten zweiten Leitung erreicht, wäre er mit Sicherheit vor der Verfolgung des Täters gewarnt oder sogar zum Abbruch gemahnt worden. Er hätte damit sein eigenes Leben retten können. Gleichzeitig hätte die Polizei von Vili das Autokennzeichen des Täters und dessen Fahrtrichtung nach Hanau Kesselstadt erfahren und eine sofortige Fahndung nach dem Täter starten können.
Ab dem ersten Anrufversuch von Vili Viorel Păun dauerte es immerhin noch 2 Minuten und 34 Sekunden, bis der Täter den zweiten Tatort in Kesselstadt um 22:00:28 Uhr betrat. Ob diese Zeit hätte reichen können, um die Morde am zweiten Tatort zu verhindern, bleibt ungewiss. Doch aufgezeichnet und auch von der Staatsanwaltschaft Hanau bestätigt ist, dass Vili Viorel Păun in dieser Zeit zwei weitere Male – um 21:58:42 und um 21:59:17 – nicht zum Hanauer Polizei-Notruf durchkommt. Also zwei weitere Chancen für das Leben von Vili, doch die zweite Leitung war und blieb in dieser entscheidenden Tatzeit bereits verlassen und damit unbesetzt – ganz im Gegensatz zu dem, was der Innenminister noch am 11.2.21 in seiner Erklärung vor dem Innenausschuss suggeriert.
Bestätigt wird die nicht besetzte zweite Leitung nun nochmals vom Leiter der Polizeidirektion Hanau, Jürgen Fehler, in einer aktuellen HR-Dokumentation. Zitat: „Die Polizei gehört auf die Strasse, und hat die Gefahr draußen anzugehen und nicht auf einer Wache zu warten, ob da noch weitere Telefonate eingehen.“ Fehler bestreitet also nicht mehr wie sein Innenminister, dass der Notruf in der entscheidenden Phase nur noch mit einer Person besetzt war. Er rechtfertigt es mit der Situation und bringt aber nicht den Mut auf, die eigene Unterbesetzung und Überforderung und auch die Tatsache, dass es Gefahrenlagen gibt, in denen der Besetzung der Notrufplätze besondere Bedeutung zukommt, selbstkritisch zu reflektieren.
Dass die technische Ausrüstung sowie die personelle Ausstattung des Hanauer Polizeinotrufs seit vielen Jahren in der polizei-internen Kritik stand, war bereits in früheren Presseveröffentlichungen zur Sprache gekommen. Die Staatsanwaltschaft Hanau hat die nahezu 20-jährige Geschichte des Hanauer Notruf-Desasters nochmals nachgezeichnet und in diesen – bislang allerdings noch nicht veröffentlichten – Ausführungen insbesondere darauf hingewiesen, dass bereits 2016 bei der hessischen Polizei Szenarien durchgespielt worden, die deutlich gemacht haben, wie wichtig eine möglichst große Anzahl von Notrufabfrageplätzen ist. In den Ausführungen der Staatsanwaltschaft Hanau wird dargelegt, dass bereits 2016 innerhalb der hessischen Polizei nach Erfahrungen aus Terroranschlägen erkannt worden sei, dass es in den Minuten nach einem Anschlagsgeschehen besonders wichtig sei, eine möglichst große Anzahl von Notrufabfrageplätzen zur Verfügung zu haben, um mit dem zu erwartenden erhebliche Notrufaufkommen umgehen können. Es wird dabei vor allem auf mobile Täter hingewiesen, die (auf der Flucht) in kürzester Zeit eine gewisse Strecke zurücklegen können, so dass bei einer unzureichenden Kapazität der Notrufabfrageplätze Ortsangaben für die eingesetzten Kräfte nur stark verzögert oder inaktuell übermittelt werden könnten. Dabei erklärt die Staatsanwaltschaft ausdrücklich, dass dieses beschriebene Szenario Ähnlichkeiten zu der vorliegenden Fallgestaltung des Anschlags von Hanau vom 19.02.2020 aufweist.
Es wäre mehr als irritierend wenn der Leiter der Polizeidirektion Hanau von dieser internen Kritik und Aufarbeitung nichts mitbekommen und angesichts dieser dringenden Problemlage nichts unternommen hätte. Spätestens ab Mai 2020, als Niculescu Păun zum ersten Mal öffentlich thematisierte, dass sein Sohn vergeblich versucht hatte, den Notruf zu erreichen, sollte dieses Thema auch erneut in der Hanauer Polizeidirektion angekommen sein.
Dass jedenfalls die Polizeiführung in Südosthessen und auch der hessische Innenminister, der immerhin seit 2014 in Wiesbaden im Amt ist, von dieser internen Auseinandersetzung und den zentralen Hinweisen bezüglich der Hanauer Notrufeinschränkung und der entsprechenden Gefahren und Risiken nichts mitbekommen hat, ist kaum glaubhaft.
Wenn der hessische Innenminister Peter Beuth es wirklich nicht wusste, sollte er wegen Unfähigkeit zurücktreten. Wenn er es wusste, sollte er wegen Vertuschung erst recht zurücktreten. Denn beim Notruf-Desaster von Hanau hat der Innenminister offensichtlich mehrfach vorsätzlich getäuscht.
Initiative 19. Februar Hanau am 13. Juli 2021
In Erinnerung an Esther Bejarano
1924 – 2021
Kämpferin gegen das Vergessen.
“Würdiges Gedenken heißt kämpfen. Wir müssen uns alle erinnern, damit es nicht wieder geschehen kann. Damit noch mehr Menschen gegen menschenverachtende Ideologien aufstehen und sich einsetzen. Heute bin ich örtlich von Euch getrennt. Aber mit meinem Herzen bin ich bei Euch.”
Esther Bejarano am 14.02.2021 in ihrem Gruß an die Angehörigen und Überlebenden in Hanau
Wir haben viel von Dir gelernt, Esther. Von Deinem offenen Geist, der die Erinnerung an die Vergangenheit lebendig hielt, um nie zu vergessen und um zu verändern. Bis zuletzt warst Du eine Stütze auch unserer Kämpfe gegen das Vergessen. Zuletzt zum Jahrestag des rassistischen Anschlags hast Du uns Grüße geschickt. Heute nehmen wir Abschied. In unseren Kämpfen und Herzen wirst Du lebendig bleiben.
Ein überfälliges Signal der Verantwortungsübernahme: Hanauer Familien sollen Geld aus Allgemeinem Opferfonds des Landes Hessen erhalten
Pressemitteilung der Initiative 19. Februar und des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt
Hanau, 08.07.2021
Ein überfälliges Signal der Verantwortungsübernahme: Hanauer Familien sollen Geld aus Allgemeinem Opferfonds des Landes Hessen erhalten
Wie aus Wiesbaden bekannt wurde, sollen die Familien der Opfer des rassistischen Terroranschlags vom 19. Februar 2020 in Hanau Unterstützung aus dem neuen allgemeinen hessischen Fonds für Opfer von Gewalt beantragen können.
„Wir begrüßen, dass sich die demokratischen Parteien im hessischen Landtag 17 Monate nach den neun rassistisch motivierten Morden endlich dazu durchgerungen haben, die Hinterbliebenen und Verletzten finanziell zu unterstützen. Denn die Lage der Familien wurde angesichts auslaufender Krankengelder immer prekärer und bislang hatten die Familien vom Land Hessen keinerlei finanzielle Unterstützung erhalten “, sagt Newroz Duman von der Initiative 19. Februar. „Wichtig ist jetzt vor allem, dass auf die öffentliche Ankündigung eine schnelle und unbürokratische Verfahrensweise implementiert wird, die die Betroffenen nicht zu Bittsteller*innen degradiert.“
Robert Kusche, Vorstandsmitglied im VBRG e.V. und Geschäftsführer der Opferberatung SUPPORT, ergänzt: „Bei dem öffentlichen Versprechen, die Hinterbliebenen und Verletzten des rassistischen Attentats von Hanau zu unterstützen, handelt es sich um ein schon längst überfälliges Signal der Verantwortungsübernahme durch das Land Hessen für die zahlreichen Polizei- und Behördenfehler im Kontext des Attentats vom 19.2.2020“ Jetzt sei es wichtig, dass das Geld zeitnah, unbürokratisch und unabhängig von anderen staatlichen Leistungen ausgezahlt wird. „Das Land Hessen ist in der Verantwortung dafür, dass die Betroffenen nicht zusätzlich zu dem traumatischen Verlust ihrer Angehörigen mit finanzieller Verarmung konfrontiert sind.“
Vor mehr als einem halben Jahr, im Dezember 2020 hatten die Initiative 19. Februar, der Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG e.V.) und die hessische Opferberatung response in Trägerschaft der Bildungsstätte Anne Frank erstmals Parteienvertreter:innen in Wiesbaden angesprochen und angeregt, dass Hessen dem Beispiel des Opferhilfsfonds in Thüringen folgen solle. Die Thüringische Landesregierung hatte mit einem Fonds für die Hinterbliebenen der NSU-Mordserie die Verantwortung für die Behördenfehler des Freistaats Thüringen übernommen. Nachdem die Verhandlungen ins Stocken gerieten, hatten über 53.000 Menschen eine Petition für einen Rechtsterrorismus-Opferfonds in Hessen unterschrieben. Die Initiative 19. Februar und der VBRG e.V. hatten die Unterschriften am 8. Mai 2021 im Wiesbadener Landtag an Abgeordnete von CDU, SPD, Grüne, Linke und FDP übergeben und dringend eine schnelle und unbürokratische Umsetzung angemahnt.
„Beschämend bleibt, dass das Land Hessen keinen eigenen Rechtsterrorismus-Opferfonds einrichten wollte – obwohl es in den vergangenen zwei Jahren in keinem anderen Bundesland soviele Todesopfer rechtsterroristischer Gewalt wie in Hessen gab und damit beispielsweise auch die Familie von Halit Yozgat keinen Zugang zu finanzieller Unterstützung durch das Land hat“, sagt Robert Kusche vom VBRG e.V. . Indem lediglich ein allgemeiner Opferfonds mit relativ knappen Mitteln eingerichtet wurde, besteht die Gefahr, dass Opfergruppen in Konkurrenz zueinander gebracht werden. Dennoch sind wir erleichtert, dass dem rechtsterroristischen Anschlag in Hanau eine besondere Bedeutung zugemessen wurde“.
Newroz Duman fügt abschließend hinzu: „Wir sehen die Entscheidung als einen ersten wichtigen Schritt und als eine dringend notwendig Hilfe für die nächste Zeit. Allerdings warten wir immer noch darauf, dass auch politisch die Verantwortung für den Anschlag in Hanau übernommen und den Betroffenen zugesichert wird, dass sie auch in zwei oder drei Jahren nicht vergessen und alleine gelassen werden.“
Pressemitteilung: Initiative 19. Februar begrüßt Untersuchungsausschuss zu Hanau
„Wir danken der hessischen SPD, der Linken und der FDP, dass sie das Anliegen der Angehörigen der Opfer des 19. Februar 2020 aufgegriffen haben und einen Untersuchungsausschuss zu Hanau auf den Weg bringen“, kommentiert Newroz Duman von der Initiative 19. Februar die Einreichung der demokratischen Oppositionsparteien in der heutigen Plenarsitzung. Und weiter: „Die Kette des Versagens vor, in und nach der Tatnacht liegt überwiegend in der Verantwortung hessischer Behörden und der Polizei. Deshalb ist es notwendig und wichtig, dass alle Fehler und Unterlassungen im hessischen Parlament ausführlich zur Sprache gebracht werden.“
Nancy Faeser, Fraktionsvorsitzende der hessischen SPD, hatte in der letzten Woche bereits öffentlich angekündigt, dass ihre Partei gemeinsam mit der Linken und der FDP einen entsprechenden Antrag stellen wird. In den 10 Punkten des Antragstextes werden die zentralen Fragen der Hinterbliebenen thematisiert.
Dazu gehört aus aktuellem Anlass auch der Skandal um das SEK, das Innenminister Beuth unlängst wegen rechtsextremer Chat-Gruppen auflösen musste. „Wir wissen,“ sagt Newroz Duman, „dass der SEK-Chef, der in Hanau den Einsatz am Täterhaus leitete, zum K-71 gehört, also zu der aufgelösten Einheit. Wir wollen jetzt wissen, ob der Einsatzleiter zu den 13 Polizisten gehört, die suspendiert wurden und am 19./20. Februar 2020 in Hanau eingesetzt waren.“ Die Initiative hatte in früheren Veröffentlichungen die um mehrere Stunden verspätete Stürmung des Täterhauses kritisiert.
Newroz Duman fasst die Erwartungen der Initiative 19. Februar an den Untersuchungsausschuss abschließend zusammen: „Wir erhoffen keine Wunder und es wird ein langes Verfahren werden. Aber wir glauben, dass der Untersuchungsausschuss angesichts des fortgesetzten Schweigens der Behörden eine wichtige, zusätzliche Möglichkeit bietet, um unserem Ziel nach lückenloser Aufklärung Nachdruck zu verschaffen.“
Eine Pressemitteilung der Initiative 19. Februar zur abgelehnten Einleitung eines Ermittlungsverfahrens wegen Nichterreichbarkeit des polizeilichen Notrufs vom 6. Juli 2021 findet sich hier:
https://19feb-hanau.org/2021/07/06/pressemitteilung-abgelehnte-einleitung-eines-ermittlungsverfahrens-wegen-nichterreichbarkeit-des-polizeilichen-notrufs/