#saytheirnames — Neues aus dem ,,Laden“
Nr. 4 —September/Oktober 2021
Liebe Freundinnen und Freunde,
Mit über 20 Angehörigen, Überlebenden und Unterstützer:innen haben wir uns aus Hanau am 4. September 2021 an der Unteilbar-Demonstration in Berlin beteiligt. Bis zu 30.000 Menschen aus verschiedenen sozialen Bewegungen waren dort auf der Straße, um wenige Wochen vor den Bundestagswahlen ihre Forderungen für eine gerechtere Gesellschaft gemeinsam in die Öffentlichkeit zu bringen. Im Redeblock zum Kampf gegen Rassismus war dann auch Hanau auf der Hauptbühne der zentralen Abschlusskundgebung vertreten.
Auf der folgenden Seite dokumentieren wir die Rede aus Hanau und anschließend haben wir wieder aktuelle Informationen zu unseren vier Forderungen zusammengestellt: „Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung und Konsequenzen“. Dazu vorab schon die Bitte, Euch Freitag, den 3. Dezember 2021, vorzumerken und freizuhalten. Denn an diesem Tag wird im Wiesbadener Landtag die erste öffentliche Sitzung des Untersuchungsausschusses zu Hanau stattfinden. Wir wollen dann mit möglichst vielen Menschen in Wiesbaden zu einer begleitenden Kundgebung zusammen-kommen. Siehe dazu das Kapitel zur Aufklärung.
Den vollständigen Newsletter als PDF zum Download findet ihr wie gewohnt HIER
Rede von Said Etris Hashemi und Mirkan Unvar am 4. September in Berlin
Etris: Stell dir vor du triffst deine Jungs wie jeden Abend und dein ganzes Leben verändert sich von einer auf die andere Sekunde. Nichts ist mehr, wie es vorher war. Ich habe meinen Bruder verloren, ich habe meine Freunde verloren, fast habe auch ich mein Leben verloren.
Mirkan: Auch ich habe an diesem Abend meinen Bruder verloren. Insgesamt haben 9 Familien ihre Liebsten verloren. Der Täter kam und schoss ohne Vorwarnung. Kein Wort. Er kam, um zu töten. Weil manche von uns dunkle Haare und dunkle Augen haben.
Etris: Er schoss auf uns, weil wir für ihn Fremde waren. Was heißt eigentlich Fremde? Wir sind hier geboren. Wir sind hier aufgewachsen. Wir kommen von hier. Und selbst wenn nicht. Was macht das für einen Unterschied. Wo kommst du eigentlich her?
Mirkan: Kesselstadt. Wer entscheidet über ein Menschenleben. Ich kenne Rassismus sehr gut. Lange vor dieser Tat. Kennst du ihn auch? Hast du ihn schon erlebt? Als Witz? Als Beleidigung? Als Angriff? Als Blick? Als Geste?
Ich kenne ihn von der Supermarktkasse. Ich kenne ihn bei der Wohnungssuche. Ich kenne ihn in der Schule. Im Bus, wenn die Menschen nach ihrer Handtasche schauen. Ich kenne ihn, wenn ich in meinem Auto sitze. Und ich kenne ihn, wenn ich angehalten werde. Wie oft wurdest du von der Polizei kontrolliert? 10 Mal, 50 Mal, 100 Mal. Ich habe aufgehört zu zählen.
Etris: Rassismus endet mit einem Schuss. Hanau. Seit eineinhalb Jahren kämpfen wir tagtäglich um Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung und Konsequenzen. Die Erinnerung können wir nur mit Eurer Solidarität aufrechterhalten. Die Perspektive der Opfer steht dabei im Zentrum. Die Menschen sollen sich an die Namen der Ermordeten erinnern, an das was geschehen ist und was nicht verhindert wurde.
Mirkan: Auch wir haben erlebt, wie die Opfer nach dem Anschlag im Stich gelassen wurden – so wie so viele andere Opfer rechter Gewalt vor uns. Wir fordern endlich Gerechtigkeit. Den meisten ist bekannt, dass wir in den vergangenen 18 Monaten von Opfern eines Anschlags zu Ermittlern werden mussten. Nur durch unsere eigenen Recherchen wurde die Kette des Versagens der Behörden und die vielen Fehler aufgedeckt. Nun müssen Konsequenzen folgen. Wir haben aus der mangelnden Aufklärung der vielen anderen rassistischen und antisemitischen Anschläge gelernt. Allein aus Respekt vor der Erfahrung vieler anderer Betroffener sagen wir: wir werden keine Ruhe geben, solange sich die Verantwortlichen davor drücken, die Verantwortung zu übernehmen.
Etris: Für: Gökhan, Sedat, Said Nesar, Mercedes, Hamza, Vili Viorel, Fatih, Ferhat, Kaloyan. Wir werden sie nie vergessen!
ERINNERUNG
Rückblicke
Am 19. und 20. August gab es in Dietzenbach und in Erlensee jeweils eigene Gedenkaktionen für Sedat Gürbüz und Kaloyan Velkov. Sedat war in Dietzenbach aufgewachsen, Kaloyan hatte in Erlensee gewohnt. In Dietzenbach wurde eine Gedenkstele eingeweiht, in Erlensee eine Gedenktafel. Auf beiden Gedenksteinen sind alle Opfer des rassistischen Terroranschlages von Hanau eingeschrieben, auf beiden Kundgebungen wurden alle Namen der Ermordeten genannt.
Say their names!
Ausblicke
Am 19. September 2021 sind die Angehörigen und Überlebenden zum Heimspiel des Hanauer Sportclub 1960 e.V. ins Herbert-Dröse-Stadion eingeladen. Der Verein möchte die Familien in ihrem Gedenken unterstützen und mithelfen, dass die Namen der Opfer niemals vergessen werden.
Gleichzeitig hat sich in den letzten Wochen das Auswahlverfahren zum zentralen Mahnmal weiterentwickelt. Fünf Modelle wurden nun auch der
Öffentlichkeit vorgestellt. Noch im Oktober soll auf Grundlage der Empfehlung der Jury der Familien eine Entscheidung getroffen werden, damit das Mahnmal – so der Plan der Stadt Hanau – zum zweiten Jahrestag am 19. Februar 2022 eingeweiht werden kann. Neben der finalen Auswahl geht es insbesondere auch um den Standort des Mahnmals. Die Angehörigen favorisieren sehr eindeutig den Marktplatz als zentralen Ort des Gedenkens und alle sind aufgefordert, die Familien in dieser Forderung zu unterstützen.
GERECHTIGKEIT
Im Mai 2021 hatten wir im hessischen Landtag über 53.000 Unterschriften für einen Opferfond für die Hanauer Familien überreicht. Vor dem Hintergrund, dass nach 18 Monaten – also im August 2021 – bei einigen Familien der Bezug von Krankengeld wegfällt, hatten die Abgeordneten zugesagt, dass nun endlich schnell und unbürokratisch geholfen würde. Im Juli 2021 wurde dies in offiziellen Pressemitteilungen aus Wiesbaden nochmals bestätigt. Doch jetzt ist es Mitte September 2021 und noch immer sind keine Auszahlungen zur finanziellen Absicherung der Familien in Sicht.
Es bleibt beschämend: nach fast 19 Monaten ist noch immer keine finanzielle Unterstützung aus Wiesbaden für die Angehörigen der Opfer von Hanau überwiesen worden.
AUFKLÄRUNG
Untersuchungsausschuss
Der Untersuchungsausschuss zu Hanau (UNA 20/2) hatte noch im Juli 2021 mit ersten nicht-öffentlichen Sitzungen begonnen, die 15 Abgeordneten (5 von der CDU, jeweils 3 von Grünen und SPD, 2 von der AfD, und jeweils 1 von FDP und Linke) sind dabei, den Ablaufplan für die 10 zentralen Fragen zu strukturieren und sich über die Reihenfolge der Befragung von Zeug:innen zu verständigen. SPD und Linke wollen der berechtigten Forderung der Angehörigen nachkommen, dass diese zuallererst gehört werden. Die Grünen hatten dies zunächst ebenfalls versprochen, wollen jetzt aber offensichtlich mit der CDU als ersten Sachverständigen einen „Polizeiexperten“ aus NRW anhören. Einmal mehr muss jetzt auf die Grünen Druck aufgebaut werden, ihr Versprechen einzuhalten.
Jedenfalls ist Freitag, der 3. Dezember 2021, der erste öffentliche Sitzungstag, zu dem die Initiative 19. Februar mit den Familien und Überlebenden mobilisieren werden. Alle neun Familien haben einen Platz im UNA-Saal, mit allen anderen wollen wir so nah wie möglich am Landtag eine Kundgebung organisieren und damit auch von außen die Medien informieren.
Der Untersuchungsausschuss wird womöglich die einzige institutionelle Chance bleiben, die Kette des Versagens in Hanau vor, in und nach der Tatnacht kritisch aufzuarbeiten. Er wird über den zweiten Jahrestag am 19.02.22 hinaus noch mindestens über das gesamte Jahr 2022 andauern. Mit einer Begleitkampagne wollen wir an möglichst vielen Sitzungstagen so stark und so laut wie möglich lückenlose Aufklärung sowie die Übernahme der politischen Verantwortung für das vielfache Versagen einfordern.
Zum Notausgang
Wie schon beim Desaster mit dem Notruf will die Hanauer Staatsanwaltschaft nun auch beim verschlossenen Notausgang im zweiten Tatort kein Ermittlungsverfahren einleiten. Die Anwälte:innen der Angehörigen werden hiergegen allerdings ebenfalls Beschwerde einlegen. Es bleibt zunächst ein Skandal, dass alles Versagen überhaupt nur bekannt und zum öffentlichen Thema wurde, weil die Familien selbst ermittelt und Anzeigen gestellt hatten. Und nun wird versucht, Zuständigkeiten solange hin- und herzuschieben bzw. eindeutig beschriebene Vorgänge mit neuen Zeugenaussagen so zu relativieren, dass am Schluss niemand mehr verantwortlich ist. Offensichtlich soll vermieden werden, dass die Kette des Versagens juristisch aufgearbeitet werden muss. Wir werden aber alle Widerspruchs-möglichkeiten ausschöpfen und weiter öffentlich thematisieren, was hier vertuscht werden soll.
KONSEQUENZEN
Wir wissen, dass sich wenig bis nichts ändern wird, wenn wir nicht von unten immer wieder Dampf machen. „Hanau“ hat bereits einiges an öffentlichem Druck erreicht, doch über vermehrte Mitleidsfloskeln hinaus gab es kaum konkrete Konsequenzen. Es gab in den letzten Monaten viele Besuche seitens der Politik und viel Versprechungen doch es folgen keine Taten. Weder in den Behörden, noch in bei den politischen Verantwortlichen wird sich etwas ändern, wenn wir nicht weiterhin Druck in der Öffentlichkeit machen. Bundesweit haben nicht weniger, sondern noch mehr Rassisten legale Waffenscheine erhalten. Und in der Hanauer Polizeistation sind – wie im April 2021 nachweislich dokumentiert – Beamte im Dienst, die beleidigen und beschimpfen, statt bedrohten Menschen bei der Anzeige zu helfen. Schließlich das von Rassisten durchsetzte Frankfurter SEK, das 2021 nur zufällig aufgeflogen ist, aber am 19. Februar 2020 in Hanau am Täterhaus im Einsatz war. Eine „Zäsur“, also einschneidende Veränderungen sehen definitiv anders aus.
Doch es gibt uns Mut, die Solidarität, in den vielen Anschreiben an und den zahlreichen Besuchen in der Initiative 19. Februar zu erleben, dass in immer mehr Städten Initiativen von Betroffenen sowie Solidaritätskreise entstehen und sich verstärken und vernetzen. Mit ihnen wollen und müssen wir die nachhaltigen Strukturen schaffen, um Konsequenzen und wirkliche Veränderungen zu erzwingen.