Als Niculescu Păun am 14. Mai 2020, knapp drei Monate nach dem rassistischen Terroranschlag in Hanau, im Hessischen Landtag das Handy seines ermordeten Sohnes in die Kameras der Journalist:innen hält, konnte noch niemand ahnen, dass sich daraus ein andauernder Polizeiskandal entwickeln würde.
Dieser Text ist Teil einer Reihe von aktuellen Einschätzungen zum Untersuchungsausschuss im Hessischen Landtag (UNA 20/2) zum rassistischen Terroranschlag am 19.2.2020 in Hanau. Der öffentliche Teil des Untersuchungsausschusses begann im Dezember 2021, der Ausschuss wird bis zum Sommer 2023 weiter tagen. Die Textreihe versucht, zu einzelnen Themenkomplexen einen Zwischenstand wiederzugeben. Ein weiterer Baustein unserer eigenen Aufklärung.
Nur dank hartnäckiger Recherchen der Familie Păun, von Journalist:innen, Rechtsanwalt:innen und Unterstützer:innen sowie durch entsprechende Befragungen im parlamentarischen Untersuchungsausschuss in Wiesbaden wissen wir heute, was bezüglich der personellen Unterbesetzung sowie der technischen Unteraustattung von der hessischen Polizei und dem Innenministerium mit allen Mitteln verheimlicht und vertuscht werden sollte:
— Der Notruf war – von den ersten 16 Sekunden abgesehen – nur mit einer Person besetzt, nachdem vier weitere Beamte zum ersten Tatort fuhren. Eine weitere Polizeibeamtin, die auf der gleichen Etage in der Hanauer Station Dienst hatte und am zweiten Telefon hätte eingesetzt werden können, wurde – nach eigenen Angaben – schlicht „vergessen“!
— Es gab beim Hanauer Notruf keine Überlauf- bzw. keine Weiterleitungsfunktion für nicht angenommene Anrufe. Das allein ist schwer zu glauben, doch es kommt noch schlimmer. Niemand bei der Polizei – weder die beteiligte Polizeibeamtin, die am Tatabend am Telefon saß, noch der Hanauer Polizeichef und auch nicht der hessische Polizeipräsident – wollen dies zum Zeitpunkt des Anschlags gewusst haben! Vielmehr sind sie alle davon ausgegangen, dass – wenn das zweite Telefon klingelt und nicht abgenommen werden konnte – dieser Notruf weitergeleitet wird. Das war aber nicht der Fall. Alle nicht angenommenen Notrufe gingen ins Leere.
— Niemand kann erklären, warum es innerhalb der ersten Stunde nach dem Anschlag nur wenige Notrufe gab. Die Aufnahmefunktionen waren offensichtlich gestört und möglicherweise geht das technische Versagen noch weit über das hinaus, was die Behörden mittlerweile zugeben mussten.
— Ein Skandal im Skandal: Offensichtlich gab es nach dem Anschlag am 19. Februar 2020 keinerlei kritische Aufarbeitung zum Notrufversagen innerhalb der zuständigen Polizeibehörden und mit den beteiligten Polizist:innen.
— Schließlich wurde im Untersuchungsausschuss zusätzlich bekannt, dass das Landespolizeipräsidium versucht hatte, auf das polizei-interne Ermittlungsverfahren zum Notrufversagen Einfluss zu nehmen.
Zusammenfassend:
Über fast 20 Jahre haben die Verantwortlichen bei der Polizei mit der Bevölkerung des Hanauer Altkreises, also ca. 200.000 Menschen, beim Notruf auf Risiko gespielt. Bis es dann am 19.02.2020 passierte: mehrere Zeug:innen des Anschlags konnten die Polizei über die 110 wegen der Unterbesetzung und Unterausstattung nicht erreichen. Vili Viorel Păun gehörte zu den Betroffenen, die mehrfach versucht haben, die Polizei anzurufen. Er hätte die Chance gehabt, sein Leben – und mit Glück auch das von anderen Opfern – zu retten, wenn er durchgekommen wäre. Doch Vili verlor sein Leben, ohne dass diesem Organisationsversagen der Polizei Konsequenzen folgten. Bis heute – fast drei Jahre danach – gibt es nicht einmal eine Entschuldigung der Verantwortlichen.
Vertuschung, Täuschung und Lügen
Chronologie zum Hanauer Notruf-Desaster
13. Mai 2020 – Rückgabe des Handys von Vili Viorel Păun
Die Rechtsanwältin des Ehepaares Păun erhält von der Polizei ohne jeden Kommentar oder Erklärung das konfiszierte Handy von Vili Viorel Păun zurück. Es stellt sich heraus: Vili hatte fünfmal versucht, die Polizei anzurufen (dreimal die 110. einmal 11, und einmal 10). Er hatte sich offensichtlich zweimal verwählt. Aber er hatte dreimal die 110 gewählt
14. Mai 2020 – Hessischer Landtag
Die Familien der Opfer fahren nach Wiesbaden, um im Landtag der Innenausschusssitzung bezüglich Hanau zuzuhören. Sie erwarten Erklärungen und Entschuldigungen für die Versäumnisse und Fehler in der Tatnacht. Stattdessen spricht Innenminister Beuth von hervorragender Polizeiarbeit. Beim anschließenden Zusammentreffen mit Journalisten zeigt Niculescu Păun das erste Mal öffentlich das Handy seines ermordeten Sohnes mit den drei Anrufversuchen bei 110.
29. Mai 2020 – ZDF-Recherche
Das ZDF recherchiert in einem Bericht zum Hanauer Anschlag auch zu den gescheiterten Notrufen von Vili Viorel Păun. Die Journalistin befragt Henry Faltin, Erster Kriminalhauptkommissar der Polizei Südosthessen, zu den Abläufen beim polizeilichen Notruf. Sie hakt nach, warum Vili als wahrscheinlich einer der ersten Anrufer in der Tatnacht nicht durchkam. Die ausweichende Antwort: „In der Nacht haben sehr viele Menschen angerufen (…) aber es wird technisch gar nicht machbar sein, dass alle durchkommen (…)“.
Es ist kaum vorstellbar, dass die Polizei drei Monate nach der Tat noch nicht wusste, dass der Notruf personell unterbesetzt war und eine Weiterleitung nicht funktionierte. Offensichtlich war dies der erste bewusste Vertuschungsversuch der Polizei, darauf hoffend, dass niemand mehr weiter nachfragt?
https://www.zdf.de/politik/laenderspiegel/videos/drei-monate-nach-der-terrortat-in-hanau-100.html ab Minute 13:20 zum Notruf
28. Januar 2021 – Skandalisierung durch Monitor
Monitor – in Zusammenarbeit mit Spiegel und HR – skandalisiert in einem längeren Bericht zu den Versäumnissen in Hanau die wahrscheinliche personelle Unterbesetzung und insbesondere die technische Unterausstattung des Notrufs. Denn in einer Anfrage hatte die Polizei eingeräumt, dass es keinen Notrufüberlauf gab und dieser auch erst für die Zukunft geplant sei. Aus der Sendung:
„Würde Vili Păun noch leben, wenn sein Notruf angekommen wäre Diese Frage lasse sich nicht seriös beantworten, schreibt die Hanauer Polizei auf Anfrage. Bei hohem Anrufaufkommen sei aber; Zitat: „nicht auszuschließen, dass Notrufe im Einzelfall nicht direkt angenommen werden können.”
Im Einzelfall? Anruf-Dokumentationen zeigen, dass in der Tatzeit insgesamt nur fünf Anrufe bei der 110 registriert wurden. Und viele Zeugen sagen uns, dass sie nicht durchgekommen seien.
Wie viele Notrufe versäumt wurden, könne man rückblickend nicht sagen, sagt die Polizei. Aber, es gab in der Tatnacht nur zwei Apparate, an denen Notrufe angenommen werden konnten. Und selbst die waren offenbar nicht durchgehend besetzt, eine Rufumleitung zu einer Leitstelle nicht eingerichtet.
Sebastian Fiedler, Bund Deutscher Kriminalbeamter: „Mir fehlt jegliche Kenntnis und allerdings auch jegliches Verständnis dafür, warum das so gewesen sein sollte. Solche Notrufe gehören in große, professionell ausgestattete Leitstellen. Die Kolleginnen und Kollegen, die dort arbeiten, sind selbstverständlich spezialisiert.“
Vili Păun starb in seinem Wagen. Warum der Notruf so schlecht organisiert war, ist unklar. Und behoben wurde das Problem offenbar bis heute nicht. Die Polizei teilt auf Nachfrage nur mit, ein Überleitungssystem für Notrufe sei „geplant”.
Monitor Sendung vom 28.1.2021
https://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/hanau-versaeumnisse-100.html
insgesamt 12:49 Minuten, zum Notruf an Minute 2:38
11. Februar 2021 – vorsätzliche Täuschung von Innenminister Beuth im Landtag
Am 11.Februar 2021 gibt Innenminister Beuth im Innenausschuss des hessischen Landtags eine Erklärung ab. Er räumt nach den entsprechenden medialen Veröffentlichungen der Vortage nochmals ein, dass es technische Probleme mit der 110 in Hanau gab. Gleichzeitig täuscht er den Eindruck vor, dass der Notruf in der Tatzeit zunächst mit zwei und dann sogar drei Personen besetzt war.
„Meine sehr geehrten Damen und Herren, die hessische Polizei ist eine gut aufgestellte Polizei. Das hat sie auch vor einem Jahr in Hanau bewiesen. So sind nach dem Eingang des ersten Notrufs bereits nach wenigen Minuten Polizeikräfte am ersten Tatort eingetroffen. Die bei der Polizeistation Hanau I vorhandenen Notruftelefone waren besetzt, und es wurden in der Folge weitere Anrufe angenommen.“ (Seite 15 des Protokolls vom 11.2.2021)
„Zur unmittelbaren Tatzeit haben sich zwei Polizeibeamtinnen der Polizeistation Hanau I sofort mit der Entgegennahme der Notrufe befasst. Zur Unterstützung für den weiteren Einsatzverlauf wurde ein zusätzlicher Polizeibeamter hinzugezogen.“ (Seite 23 des Protokolls vom 11.2.2021)
Diese Aussagen sind eine vorsätzliche Täuschung. Denn im Untersuchungsausschuss wurde offiziell bestätigt, dass ein Beamter nach 16 Sekunden den Notruf verließ und eine andere Beamtin in der Dienststelle „vergessen“ wurde. Es war also in der entscheidenden Phase nur eine Polizistin am Notruf. Das zweite Telefon blieb verlassen und die dort eingehenden Anrufe wurden wegen der technischen Unterausstattung auch nicht weitergeleitet.
1. Juni 2021 Strafanzeige von Niculescu Păun
In den Monaten nach der Veröffentlichung von Monitor und der Erklärung des Innenministers gab es wiederum keine weiteren Informationen. Die Staatsanwaltschaft Hanau ließ verlauten, dass sie ein Prüfverfahren eröffnet hätte. Aber auch hierzu erhielt das Ehepaar Păun keine weiteren Informationen. Vor diesem Hintergrund stellte Niculescu Păun im Juni 2021 eine Strafanzeige gegen Verantwortliche der Notrufzentrale wegen fahrlässiger Tötung
5. Juli 2021 Presseinformation der Staatsanwaltschaft Hanau – „Einleitung eines Ermittlungsverfahrens betreffend den Vorwurf der Nichterreichbarkeit des polizeilichen Notrufes am 19.02.2020 abgelehnt“
Auf 24 Seiten führt die Staatsanwaltschaft Hanau in einer Presseinformation aus, dass „die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens betreffend den Vorwurf der Nichterreichbarkeit des polizeilichen Notrufes am 19.02.2020 mangels eines strafprozessualen Anfangsverdachtes abgelehnt (wird).“
Besonders infam erscheint ein Teil der Ablehnungsbegründung. Wörtlich: „Die Annahme, dass V. P. sich bei Erreichen des Notrufs durch eine polizeiliche Aufforderung von der Fortsetzung der gefahrenträchtigen Verfolgung hätte abhalten lassen bzw. zur Wahrung eines ausreichenden Sicherheitsabstandes hätte veranlassen, erscheint angesichts der vorgenannten Umstände nicht zwingend. Vor diesem Hintergrund steht bereits nicht fest, dass ein mögliches Organisationsverschulden ursächlich für den Tod des V. P. gewesen wäre. Die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens war daher abzulehnen. “
Wegen mangelnder Kausalität wird das Verfahren zwar eingestellt, gleichwohl bestätigt die Presseinformation der Staatsanwaltschaft im Grunde ein polizeiliches Organisationsverschulden bezüglich des Hanauer Notrufes.
Denn mit der Veröffentlichung der Staatsanwaltschaft Hanau am 5. Juli 2021 ließ sich der Ablauf in den entscheidenden 10 Minuten nun erstmals weitgehend rekonstruieren. In der Tatzeit zwischen 21:55 und 22:05 war – von einem Notruf mit 16 Sekunden abgesehen – nur eine Beamtin im Einsatz, die in dieser entscheidenden Phase insgesamt nur zwei Notrufe entgegennehmen konnte. Alle anderen Notrufe scheiterten, darunter auch drei Versuche von Vili Viorel Păun.
Die besagte Polizeibeamtin saß durchweg an der einen der beiden verfügbaren Leitungen und nahm um 21:56:34 einen ersten Notruf vom ersten Tatort an, der ca. drei Minuten lang dauerte. Ein zweiter Beamter nahm parallel um 21:56:40 auf der zweiten Leitung einen weiteren Notruf vom Heumarkt entgegen. Dieses Gespräch endete allerdings bereits nach 16 Sekunden, sofort danach verließ dieser Polizist den Notrufplatz und fuhr mit einem Kollegen zum Tatort.
Ab 21:56:58 – und damit in den entschiedenen nachfolgenden Minuten – war also nur noch eine der zwei Notrufleitungen von einer Beamtin besetzt, die zweite Leitung blieb komplett unbesetzt. Wer hier anrief, hörte entweder ein unbeantwortetes Frei-Zeichen, ein Besetzt-Zeichen oder – wie die Staatsanwaltschaft in ihrer Veröffentlichung vom 5. Juli 2021 formuliert: „schlicht Stille“.
Um 21:57:54 Uhr versuchte Vili Viorel Păun das erste Mal, die 110 zu erreichen. Hätte Vili Viorel Păun hier den Polizei-Notruf auf der nicht besetzten zweiten Leitung erreicht, wäre er mit Sicherheit vor der Verfolgung des Täters gewarnt oder sogar zum Abbruch gemahnt worden. Er hätte damit sein eigenes Leben retten können. Gleichzeitig hätte die Polizei von Vili das Autokennzeichen des Täters und dessen Fahrtrichtung nach Hanau Kesselstadt erfahren und eine sofortige Fahndung nach dem Täter starten können.
Ab dem ersten Anrufversuch von Vili Viorel Păun dauerte es immerhin noch ca. 2 1/2 Minuten, bis der Täter den zweiten Tatort in Kesselstadt betrat. Ob diese Zeit hätte reichen können, um die Morde am zweiten Tatort zu verhindern, bleibt ungewiss. Doch aufgezeichnet und auch von der Staatsanwaltschaft Hanau bestätigt ist, dass Vili Viorel Păun in dieser Zeit zwei weitere Male – um 21:58:31 und um 21:59:17 – nicht zum Hanauer Polizei-Notruf durchkommt. Also zwei weitere Chancen für das Leben von Vili, doch die zweite Leitung war und blieb in dieser entscheidenden Tatzeit bereits verlassen und damit unbesetzt – ganz im Gegensatz zu dem, was der hessische Innenminister noch am 11.2.21 in seiner Erklärung vor dem Innenausschuss suggeriert hatte.
Dass die technische Ausrüstung sowie die personelle Ausstattung des Hanauer Polizeinotrufs seit vielen Jahren in der polizei-internen Kritik stand, war bereits in früheren Presseveröffentlichungen zur Sprache gekommen. Die Staatsanwaltschaft Hanau hat in ihrem „Prüfverfahren“ die nahezu 20-jährige Geschichte des Hanauer Notruf-Desasters nochmals nachgezeichnet und in diesen – zum Teil nicht veröffentlichten – Ausführungen insbesondere darauf hingewiesen, dass bereits 2016 bei der hessischen Polizei Szenarien durchgespielt worden, die deutlich gemacht haben, wie wichtig eine möglichst große Anzahl von Notrufabfrageplätzen ist. Es wird dargelegt, dass bereits 2016 innerhalb der hessischen Polizei nach Erfahrungen aus Terroranschlägen erkannt worden sei, dass es in den Minuten nach einem Anschlagsgeschehen besonders wichtig sei, eine möglichst große Anzahl von Notrufabfrageplätzen zur Verfügung zu haben, um mit dem zu erwartenden erhebliche Notrufaufkommen umgehen zu können. Es wird dabei vor allem auf mobile Täter hingewiesen, die (auf der Flucht) in kürzester Zeit eine gewisse Strecke zurücklegen können, so dass bei einer unzureichenden Kapazität der Notrufabfrageplätze Ortsangaben für die eingesetzten Kräfte nur stark verzögert oder inaktuell übermittelt werden könnten. Dabei erklärt die Staatsanwaltschaft ausdrücklich, dass dieses beschriebene Szenario Ähnlichkeiten zu der vorliegenden Fallgestaltung des Anschlags von Hanau vom 19.02.2020 aufweist.
Es bleibt mehr als irritierend, wenn die Leitungen der Polizeidirektionen in Hanau sowie in Offenbach (Südosthessen) von dieser internen Kritik und Aufarbeitung nichts mitbekommen und angesichts dieser dringenden Problemlage nichts unternommen hätten.
8. Juli 2021 – Der Hanauer Polizeichef Jürgen Fehler in der HR-Dokumentation „Hanau – Einsatz in der Terrornacht“
Bestätigt wird die nicht besetzte zweite Leitung nochmals unverblümt vom Leiter der Polizeidirektion Hanau, Jürgen Fehler, in einer HR-Dokumentation, die erstmals am 8. Juli 2021 in der ARD Mediathek ausgestrahlt wurde.
Frage der Journalistin: „War es falsch, alle Beamten rauszuschicken? Nur einen am Telefon zurückzulassen?“
Antwort Jürgen Fehler: „Es war die richtige Entscheidung. Die Kollegen haben meine volle Rückendeckung. Ja, es war die richtige Entscheidung. Draußen spielt sich die Gefahr ab. (…) Die Polizei gehört auf die Strasse und hat die Gefahr draußen anzugehen. Und nicht auf der Wache zu warten, ob da noch weitere Telefonate eingehen (…).“
Jürgen Fehler bestreitet also nicht mehr, wie sein Innenminister, dass der Notruf in der entscheidenden Phase nur noch mit einer Person besetzt war. Er rechtfertigt es mit der Situation und bringt aber nicht den Mut auf, die eigene Unterbesetzung und Überforderung und auch die Tatsache, dass es Gefahrenlagen gibt, in denen der Besetzung der Notrufplätze besondere Bedeutung zukommt, selbstkritisch zu reflektieren.
Zudem unterschlägt Polizeichef Fehler, dass eine Beamtin in der Hanauer Polizeistation in den entscheidenden Minuten dieser Nacht schlichtweg „vergessen“ wurde, wie es später im Untersuchungsausschuss von der betroffenen Polizeibeamtin selbst zugegeben wird.
HR-Dokumentation „Hanau – Einsatz in der Terrornacht“
Siehe https://www.ardmediathek.de/video/doku-und-reportage/hanau-einsatz-in-der-terrornacht/hr-fernsehen/Y3JpZDovL2hyLW9ubGluZS8xNDIyMzI/
Frage der Redaktion zum Notruf ab Minute 7:34
20. Oktober 2021: Beschwerde des Rechtsanwaltes der Familie Păun gegen die Einstellung der Staatsanwaltschaft
Dazu aus der Pressemitteilung der Initiative 19. Februar Hanau, Hanau, am 26. Oktober 2021: „Vergangene Woche hat der Rechtsanwalt der Familie Păun fristgerecht eine ausführliche Beschwerdebegründung bei der Staatsanwaltschaft Hanau eingereicht. Beantragt wird, den Hinweisen auf ein Organisationsverschulden nachzugehen und ein offizielles Ermittlungsverfahren einzuleiten. Zur Erinnerung: Am 5. Juli 2021 hatte die Staatsanwaltschaft Hanau eine 24-seitige Presseinformation veröffentlicht. Die Überschrift lautete: „Einleitung eines Ermittlungsverfahrens betreffend den Vorwurf der Nichterreichbarkeit des polizeilichen Notrufes am 19.02.2020 abgelehnt“. In dem Text wird argumentiert, dass nicht gesichert sei, dass das Handynetz von Vili Viorel Păun funktioniert habe und dass nicht klar wäre, ob er den Anweisungen der Polizei, Sicherheitsabstand zum Täter zu halten, gefolgt wäre. Insofern wäre keine Kausalität – also kein direkter Begründungszusammenhang zwischen der Nichterreichbarkeit des Notrufs und dem Tod von Vili Păun – gegeben.
Dazu Niculescu Păun, der Vater von Vili: „Mein Sohn hat die Nummer gewählt, die auf jedem Polizeiwagen steht. Es ist unerträglich, dass ihm unterstellt wird, er hätte die Aufforderungen der Polizei nicht ernst genommen. Vili glaubte vielmehr bis zur letzten Sekunde, dass die Polizei ihm zu Hilfe kommen würde. Ich bin überzeugt, dass er noch leben würde, wenn die Polizei erreichbar gewesen wäre.“
Es gibt keinerlei Hinweis, dass Vili´s Handynetz versagt hätte. Vielmehr gibt es eine Reihe weiterer Tatzeugen und Überlebende, die ebenfalls erlebt haben, dass sie in der Nacht bei 110 nicht durchkamen. Es ist mittlerweile bewiesen, dass nur zwei Notruflinien existierten, wovon eine nach einem ersten eingegangenen Notruf von 16 Sekunden verlassen und das Telefon dann einfach klingeln gelassen wurde.
Björn Elberling, der Rechtsanwalt der Familie Păun, erläutert: „Es ist eindeutig, dass der polizeiliche Notruf unterbesetzt war und – trotz aller Kritik und Warnungen innerhalb der Polizei – die personelle sowie völlig veraltete technische Ausstattung nicht den Notwendigkeiten angepasst wurde. Ca. 20 Jahre lang haben die Verantwortlichen wissentlich das Risiko der Nichterreichbarkeit in Kauf genommen. Die explizit geäußerte Befürchtung, dass die Übermittlung von aktuellen Ortsangaben zu einem Täter an mangelnder Notrufkapazität scheitern könnte, mit fatalen Folgen für die Menschen an den späteren Tatorten, ist am 19.02.20202 exakt so eingetreten. Dazu muss die Staatsanwaltschaft weiter ermitteln.“
https://19feb-hanau.org/2021/10/26/zum-notruf-versagen-in-hanau-am-19-02-20/
17. Dezember 2021: Niculescu Păun sagt im Untersuchungsausschuss in Wiesbaden aus
Niculescu Păun berichtet am 17.12.2022 vor dem UNA ausführlich zur Tatnacht, insbesondere dass er und seine Frau nicht von der Ermordung ihres Sohnes informiert wurden, sondern sie selbst zur Polizeistation kommen mussten, um dies zu erfahren. Und was alles in der Folge bei der Hanauer Polizei schiefgelaufen war.
Ausführlich kam Niculescu Păun nochmals auf das Notrufversagen zu sprechen, dazu folgende Auszüge:
„Wäre der anwesende Polizeioberkommissar (POK) in der Station verblieben und hätte weitere Anrufe, die die Taten am Heumarkt meldeten, ähnlich schnell bearbeitet wie den Anruf von 21:56:42, nämlich in unter 20 Sekunden, dann wäre die Leitung zum Zeitpunkt der Anrufe meines Sohnes mit einiger Wahrscheinlichkeit frei gewesen. Der POK hätte meinem Sohn die Mitteilungen machen können, die sein Leben gerettet hätten und Vili hätte dem POK die Informationen zum Täter geben können, die möglicherweise das Leben der anderen Kesselstädter Mordopfer gerettet hätten.
Dazu meine ersten Fragen:
Warum hat der POK den Platz verlassen? Hat er das selbst entschieden? Oder hat die Entscheidung sein Vorgesetzter entschieden?
Und: aus den Akten geht hervor, dass sich noch eine weitere Polizistin im Polizeigebäude befand, allerdings mit anderen Dingen beschäftigt war. Warum hat der POK nicht diese zuerst zum Notrufplatz geholt, sie eingewiesen und ist dann zum Einsatz rausgefahren? (…)
Ich frage: Hat Jürgen Fehler, der seit 2018 Einsatzleiter der Polizei in Hanau ist, von der internen Kritik und dem Szenario von 2016 nichts mitbekommen? Warum hat er angesichts dieser dringenden Problemlage nichts unternommen?
Spätestens ab 14. Mai 2020, als ich zum ersten Mal öffentlich thematisierte, dass mein Sohn vergeblich versucht hatte, den Notruf zu erreichen, hätten er und andere zumindest einräumen können, dass der Notruf in Hanau technisch veraltet und personell unterbesetzt war.
Warum hat die Polizeiführung in Südosthessen nichts unternommen? Das war bis zum Juli 2020 Roland Ullmann. Er ist heute hessischer Polizeipräsident Was hat Herr Ullmann gewusst? Warum hat er nichts unternommen? Warum hat der damalige Polizeipräsident Udo Münch nichts unternommen?
Und nicht zuletzt: warum hat der hessische Innenminister Peter Beuth, der immerhin seit 2014 in Wiesbaden im Amt ist, von dieser internen Auseinandersetzung und den zentralen Hinweisen bezüglich der Hanauer Notrufeinschränkung und der entsprechenden Gefahren und Risiken nichts unternommen. Warum hat er sogar am 11. Februar 2021 in der Sitzung des Innenausschusses die Öffentlichkeit getäuscht?
Wir wissen mittlerweile durch die Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft und auch durch den Polizeichef Jürgen Fehler, dass die Aussagen von Herrn Beuth nicht der Wahrheit entsprechen.
Nach 16 Sekunden hat der zweite Polizeibeamte seinen Platz verlassen. Nur noch eine Beamtin war am Notruftelefon. Das zweite Telefon klingelte, ohne abgenommen zu werden… und mein Sohn kam nicht durch.
Wer bitte trägt dafür die Konsequenzen?
Ein Organisationsversagen ist offensichtlich, doch bis heute übernimmt niemand die Verantwortung. Und was besonders bitter bleibt: die Staatsanwaltschaft räumt zwar ein Organisationsversagen ein, aber sie will dennoch keine Ermittlungen aufnehmen. Weil angeblich keine Kausalität zum Tod meines Sohnes besteht. Die Staatsanwaltschaft unterstellt nämlich, dass ja nicht sicher wäre, dass mein Sohn den telefonischen Anweisungen der Polizei Folge geleistet hätte. Diese Unterstellung empfinde ich als Unverschämtheit.
Fünf Anrufversuche. Mein Sohn hatte bis zur letzten Minute an die Polizei geglaubt. Vili hätte 100%ig gerettet werden können. Wenn die Polizei damals erreichbar gewesen wäre, müsste ich heute nicht hier sitzen und diese Fragen stellen.
Am 18. Juni 2021 wurde mein Sohn vom Ministerpräsidenten Volker Bouffier posthum mit der Ehrenmedaille für Zivilcourage ausgezeichnet. Doch nur 10 Tage später unterstellt die Staatsanwaltschaft Hanau Vili, dass er womöglich nicht auf den Rat der Polizei gehört hätte. Fünf Mal hat er es versucht in der kurzen Zeit. Drei Mal hat er 110 gewählt. Immer Wieder hatte er also versucht, die Polizei zu alarmieren. Es ist doch logisch: Weil Vili Hilfe brauchte und wollte, versucht er es fünf Mal. Sein Handynetz war von Vodafone. Er befand sich mitten in der Stadt. Am Kanaltorplatz. Dann auf der Philippsruher Allee. Warum sollte sein Netzempfang nicht funktioniert haben?
Natürlich gibt es eine Kausalität: Mein Sohn ist gestorben, weil die 110 nicht erreichbar war.“
31. Mai 2022: Abweisung der Beschwerde durch Generalstaatsanwaltschaft
Aus der Begründung der Abweisung:
„…Selbst wenn das Tatgericht annähme, dass es bei den drei Anwahlversuchen des Vili-Viorel Păun zu einem Verbindungsaufbau gekommen ist, wird es nicht zu der Annahme gelangen, dass sein Tod im weiteren hypothetischen Geschehensablauf mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert worden wäre. Die Beschwerdebegründung unterstellt, dass Vili-Viorel Păun, hätte er den polizeilichen Notruf erreicht, rechtzeitig über das genaue Ausmaß der Gefährlichkeit des Attentäters unterrichtet und ihm mitgeteilt worden wäre, dass man Streifen in die Richtung des Fluchtwegs des Täters schicken werde. Vili-Viorel Păun hätte die Verfolgung des Attentäters abgebrochen und wäre von ihm nicht getötet worden. Mit bloßen Spekulationen über den hypothetischen Kausalverlauf lässt sich die Verurteilung eines Angeklagten in der Hauptverhandlung jedoch nicht begründen. Im Gegenteil: Erscheint es aufgrund bestimmter Tatsachen möglich, dass der Tod des Vili-Viorel Păun auch bei Entgegennahme des Notrufs eingetreten wäre, hat das Tatgericht bei zutreffender Anwendung des in dubio pro reo-Grundsatzes zum Freispruch zu gelangen. (…) Aus den vorgenannten Erwägungen steht nicht zu erwarten, dass der Nachweis, dass ein etwaiges Organisationsverschulden der Polizei in der Anschlagsnacht für den Tod des Vili-Viorel Păun ursächlich war, geführt werden könnte. Die Prognose des hypothetischen Kausalverlaufs ist mit zu vielen Unsicherheiten behaftet, als dass das Tatgericht unter Beachtung der strengen Maßstäbe des BGH von einer Quasi- Kausalität überzeugt sein könnte. Ein Freispruch erscheint wahrscheinlicher als eine Verurteilung, sodass kein hinreichender Tatverdacht besteht.“
18. Juli 2022 im Untersuchungsausschuss in Wiesbaden
Niemand will gewusst haben, dass es keinen Überlauf gab.
Am 18. Juli 2022 wurden vier Zeug:innen der Polizei im Untersuchungsausschuss (UNA) zum Notrufversagen in Hanau am 19. Februar 2020 vernommen. Im Vorfeld dieser Sitzung hatten wir als Initiative 19. Februar Hanau nochmal alle möglichen Fragen zur personellen Unterbesetzung sowie zur technischen Unterausstattung aufgelistet. Nur auf eine Frage waren wir nicht gekommen: nämlich, ob die eingesetzten und verantwortlichen Polizist:innen davon wussten, dass keine Weiterleitung des Hanauer Notrufs existierte.
Wir waren selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Verantwortlichen – von der Polizistin am Notruf bis zum Polizeichef – jeweils wissen, womit sie jeden Tag arbeiten und was ihre technischen Möglichkeiten bzw. ihre Einschränkungen am Notruf anbelangt. Umso erstaunlicher war es zu hören, dass die zwei Polizeibeamt:innen, die in der Tatnacht am Notruf eingesetzt waren (der eine Beamte allerdings nur für 16 Sekunden), erst Monate nach der Tat erfahren haben, dass nicht angenommene Notrufe nicht weiter geleitet wurden. Das würde bedeuten, dass die Beamt:innen in der Hanauer Polizei niemals wirklich in die vorhandene Technik eingeführt bzw. über deren Grenzen informiert wurden. Sie sind einfach davon ausgegangen, dass – wenn ein Notruftelefon klingelt und sie wegen Überlastung nicht drangehen können – dies an eine andere Polizeistation weitergeleitet wird. Dass dies nicht der Fall war und die Anrufversuche – wie auch die von Vili Viorel Păun am 19.02.2020 im Nichts landeten – bleibt bereits ein Skandal. Dass die eingesetzten Polizist:innen es nicht einmal wussten und offensichtlich über viele Jahre von falschen Voraussetzungen ausgegangen sind, macht nur noch fassungslos.
Als Skandal im Skandal erscheint, dass die Verantwortlichen im Polizeiapparat, nämlich der Chef der Hanauer Polizei und dann sogar der hessische Polizeipräsident Ullmann, nach ihren eigenen Aussagen vom 18.7.22 ebenfalls nichts vom fehlenden Notrufüberlauf gewusst haben wollten. Ullmann war jahrelang der Leiter des Polizeipräsidiums von Südosthessen, dem Hanau unterstellt ist. Er hatte selbst abgezeichnet, dass wegen der Verzögerungen beim Bau des neuen Präsidiums in Offenbach die Hanauer Station von der Zentralisierung des Notrufs ausgenommen blieb. Und dann wollte er von den konkreten technischen Konsequenzen und dem fehlenden Überlauf nichts gewusst haben?
Die UNA-Mitglieder aller Parteien – von dem an Aufklärung notorisch uninteressierten CDU-Müller abgesehen – zeigten sich empört und sprachen zum Teil direkt aus, dass sie Ullmann das nicht glauben würden. „Hätten Sie es nicht wissen müssen?“ fragt sichtlich aufgebracht ein Abgeordneter. Zudem wurde deutlich, dass auf keiner Ebene der Polizeibehörden dieses unfassbare Organisationsversagen nachträglich aufgearbeitet wurde. Dass 200.000 Menschen des Altkreises Hanau wissentlich dem jahrelangen Risiko eines in seiner Funktion eingeschränkten Notrufs ausgesetzt wurden, sollte offensichtlich unter den Teppich gekehrt werden. Dabei wiederholt sich ein Muster der hessischen Zustände: Verantwortliche der Sicherheitsbehörden behaupten gegen alle Tatsachen, dass alles gut gelaufen sei oder von Missständen nichts gewusst zu haben.
Und selbst wenn Ullmann, als damaliger Polizeipräsident und späterer Landespolizeipräsident, tatsächlich nichts vom Zustand des Hanauer Notrufes gewusst haben sollte, wäre das das keine Entschuldigung für ihn, wie er im Ausschuss versuchte zu suggerieren. Nichtwissen in so einer hochrangigen Position mindert nicht seine vollste politische Verantwortung für das Versagen der ihm unterstellten Behörde. Wenn jemand in seiner Position, nicht seine Rolle kennen sollte, ist das ein politischer Offenbarungseid für gesamte Polizeiführung Hessens inklusive des Innenministeriums.
7. November 2022 im Untersuchungsausschuss: Versuch der Einflussnahme – oder Vertuschung? – durch das Landespolizeipräsidium zu Ermittlungen beim Notruf
Am 7.11.22 sagte die Leiterin Abteilung Amtsdelikte des Hessischen Landeskriminalamtes vor dem Untersuchungsausschuss aus. Sie ermittelte im Auftrag der Staatsanwaltschaft bezüglich des Notruf-Versagens in Hanau. Am 4. März 2021 schrieb sie in Absprache mit der damaligen Chefin des Landeskriminalamtes einen Vermerk über einen Anruf einer Beamtin aus dem Landespolizeipräsidium, über welchen sie im Untersuchungsausschuss sagte „[…] das hat es noch nie gegeben.“ In diesem Anruf schlug die Beamtin der Abteilung 12 des Landespolizeipräsidiums vor, dass sie selbst Zeugen in diesem Fall verhören könnten. Die LKA-Ermittlerin schlug dieses Ansinnen aus, weil das Landespolizeipräsidium erstens grundsätzlich über keine Ermittlungskompetenzen verfügt und, zweitens weil die Vorermittlungen auf Beamte des Landespolizeipräsidiums abzielten – sogar auf dessen höchsten Beamten.
Die naheliegende Vermutung: Hat das Landespolizeipräsidium unter seinem Landespolizeipräsidenten Ullmann versucht, Vorermittlungen der Staatsanwaltschaft wegen des Versagens des Notrufs zu beeinflussen? Dies wäre besonders brisant, weil die Vorermittlungen sich u.a. auf den Behörden-Chef Ullmann selbst bezogen haben.
7. November 2022: Polizistin bestätigt im Untersuchungsausschuss: „Man hat mich vergessen.“
Ebenfalls am 7.11.2022 wurde die Polizistin H. als Zeugin befragt. Sie befand sich zur Tatzeit in der Hanauer Polizeistation. Sie berichtete zunächst von den regelmäßigen Überforderungen am Hanauer Notruf und dass die Wache deshalb ein sehr „unbeliebter Job“ war. In der Tatnacht gegen 22 Uhr war sie in einem anderen Raum auf derselben Ebene wie der Notruf mit einer Kennzeichen-Überprüfung beschäftigt. Sie kam erst (zufällig) nach 22:05 ins Wachzimmer zum zweiten Notruftelefon, hat sich dann ans zweite Telefon gesetzt, aber es wären dann erstmal keine weiteren Notrufe eingegangen. Auf die Nachfrage, warum sie nicht sofort zur Unterstützung herbeigerufen worden wäre, räumte sie wörtlich ein: „Man hat mich vergessen.“
Um es nochmal zu betonen: Wäre diese in der Polizeistation anwesende Polizistin nicht „vergessen“, sondern sofort nach dem ersten Anruf um 21:56:34 ans zweite Notruftelefon geholt worden, um weitere Anrufe schnellstmöglich abzuarbeiten, hätte Vili Viorel Păun eine Chance gehabt, durchzukommen.
Schlussbemerkung
Wie der vorliegenden Chronologie zu entnehmen, konnten durch den Untersuchungsausschuss wesentliche Informationen zur Nichterreichbarkeit des Hanauer Notrufs bestätigt bzw. ergänzt werden. Besondere Bedeutung hatte die Sitzung am 18. Juli 2022, in der das gesamte Ausmaß des Notruf-Versagens an die Öffentlichkeit kam. Der hessische Polizeipräsident Ullmann geriet massiv unter Druck und wurde wenige Wochen später in den vorzeitigen Ruhestand geschickt.
Da sich das Organisationsversagen der Hanauer und hessischen Polizei nicht mehr abstreiten ließ, wurde vom CDU- Abgeordneten im Untersuchungsausschuss immer wieder versucht, den Tod von Vili Viorel Păun als dennoch unvermeidbar darzustellen. Die Taten wären zu schnell erfolgt und daher hätte auch ein besetzter und technisch funktionierender Notruf am Ablauf nichts geändert.
Eine absurde Argumentation, denn es ist doch völlig klar: wäre Vili Viorel Păun bei einem seiner Notrufe durchgekommen, hätte zu allererst sein eigenes Leben gerettet werden können. Zudem hätte er der Polizei wertvolle Echtzeitinformationen zum Täter und zum Täterfahrzeug geben können und ohne Zweifel wäre davon das weitere Fahndungsgeschehen beeinflusst worden.
Es bleibt mehr als beschämend, dass sich die Hanauer und die Hessische Polizei sowie ihr Innenminister bis heute nicht bei der Familie Păun für das nachweisliche Notruf-Desaster entschuldigt haben. Solange – einmal mehr bei einem rassistischen Terroranschlag in Hessen – alle Verantwortlichen vor allem darum bemüht bleiben, ihr Organisationsversagen zu vertuschen, zu täuschen und zu lügen, wird es keine Ruhe geben. Wer aus Fehlern lernen will, muss sie auch zugeben und aufarbeiten. Erinnern heißt Verändern!