„140 qm gegen das Vergessen“ – ein Raum des alltäglichen Zusammenkommens
Hagen Kopp
Bereits vier Wochen nach dem schrecklichen Anschlag gelang es der Initiative 19. Februar Hanau, Räumlichkeiten am Heumarkt anzumieten. Die zunächst vage Idee war, so schnell wie möglich und in unmittelbarer Nähe zum ersten Tatort eine neue Anlaufstelle zu eröffnen: als möglicher Ort des Gedenkens und Erinnerns, als gemeinsamer Treffpunkt für Betroffene und UnterstützerInnen, als „Laden“ für antirassistische Aktionen und Projekte. Im folgenden finden sich einige Etappen und Geschichten zur Entstehung des Raumes und der beeindruckenden weiteren Entwicklung im alltäglichen Zusammenkommen.
29. Februar 2020, Heumarkt
Zum wiederholten Male standen wir vor dem ersten Tatort. Vor der Bar La Votre mit den zahlreichen kleinen, aufgesprühten Kreisen auf der Treppe vor dem Eingang. Die noch frischen Zeichen der Spurensicherung überall sichtbar. Der Täter musste hier wild um sich geschossen haben.
Zehn Tage zuvor waren Kaloyan hinter der Theke und Fatih auf der Strasse die ersten beiden Opfer. Andere konnten sich gerade noch so in Sicherheit bringen. Kurz darauf wurde Sedat im Midnight tödlich getroffen und der Täter bedrohte weitere Umstehende am Heumarkt. Er lief dann in die Krämerstrasse und schoss mehrfach auf das gerade vorbeifahrende Auto von Vili. Vili verfolgte daraufhin den Täter, versuchte ihn zu stoppen und die Polizei zu alarmieren. Vermutlich verhinderte er weitere Opfer am Heumarkt, aber er bezahlte diesen mutigen Einsatz kurz darauf mit seinem Leben. Auf einem Parkplatz in Kesselstadt. Von dort eilte der Terrorist anschließend in den Kiosk und die Arena Bar, um weitere fünf Menschen zu ermorden: Ferhat, Mercedes, Gökhan, Hamza und Said Nesar. Mehrere Menschen wurden zudem zum Teil schwer verletzt. Immer noch und immer wieder unfassbar, was ein Rassist in Hanau angerichtet hatte. Neun Menschen kaltblütig hingerichtet innerhalb von fünf Minuten und sechs Sekunden.
So standen wir hilflos am Heumarkt mit einer ersten noch vagen Idee. Einen Raum in direkter Nähe zu finden. Einen sozialen Ort zum Trauern und Treffen. Als lebendiges Zeichen gegen das Grauen. Als Versuch, Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen. Vielleicht auch nur irgendetwas zu machen, was irgendwie sinnvoll erschien. Oder sich zu etwas Sinnvollem entwickeln könnte.
Der Blick fiel auf eine große leere Fensterfront schräg gegenüber des Tatortes. Von der Innenseite war ein kleiner weißer Zettel aufgeklebt. Mit nur zwei Worten: „Provisionsfrei!!! Vermietung.“ Und einer Handynummer. Wir zögerten jedenfalls keine Minute, tippten die Ziffern direkt ins Handy und riefen an. Die Stimme eines älteren Herrn am anderen Ende der Leitung klang freundlich aber auch vorsichtig. Oder gar mißtrauisch? Er war ein Makler und ja, die Räumlichkeit war noch immer zu vermieten. Als seine Rückfrage nach unserer Mietabsicht kam, merkten wir, dass wir ziemlich spontan angerufen hatten. Wir hatten noch keinen wirklichen Plan und achteten nur darauf, nicht ins Stammeln zu geraten. „Stadtteilladen mit Beratung“ fiel uns ein, auf Nachfrage auch, dass wir ein eingetragener Verein seien, der die Räume anmieten wolle und ob ein Besichtigungstermin möglich sei. Der Makler willigte ein.
Der eingetragene Verein musste noch gefunden werden, doch fünf Tage später standen wir zu dritt das erste Mal im Laden und hatten uns gut vorbereitet. Mit einem Trägerverein im Rücken, inklusive Geschäftsführer und einer doppelten Projektleitung. Der Makler war sichtlich beeindruckt und interessiert. Nach einigen Briefwechseln und mehreren Telefonaten, in denen es zwar auch um die Konzeption aber letztlich vor allem um die Bonität des Trägervereins ging, hatten wir den Mietvertrag schneller als erwartet in der Tasche. Am 20. März, vier Wochen nach der schrecklichen Tat, erfolgte bereits die Schlüsselübergabe. Wir konnten loslegen.
Die Initiative
„Wir“ – Wer war das? Zunächst ein loser Kreis, der sich nach der Mordnacht am 19. Februar sofort versammelt hatte. Entsetzt, geschockt, fassungslos, wütend. Rassistische Morde in Hanau, ein Albtraum, den sich niemand vorstellen konnte. Zwischen autonomem Zentrum in der Metzgerstrasse und den Räumen im Gewerkschaftshaus jagte ein Treffen das nächste. Aktive aus dem Initiativenbündnis „Solidarität statt Spaltung“ und Menschen, die sich neu angeschlossen hatten und unbedingt was machen wollten. Dazu einige erfahrene Freund:innen aus bundesweiten Netzwerken, die sofort aus Berlin, Hamburg und Frankfurt nach Hanau kamen. Am Freitag, 21.2., organisierte dieser Kreis eine erste Gedenkaktion am Heumarkt. Mit einer spontanen Demonstration nach Kesselstadt und einer weiteren Trauerkundgebung am Kurt-Schuhmacher-Platz. Erstmals wurden alle bis dahin bekannten Namen der Opfer über Lautsprecher genannt. Und dann jeweils zusammen gerufen, ja geschrien und bei den Meisten mit Tränen in den Augen. Say Their Names! Am nächsten Tag dann die bundesweite Demonstration mit über 6000 Menschen. Weitere Treffen zum „wie weiter?“ folgten. Erste Begegnungen mit Angehörigen der Opfer, mit Freund:innen, mit Anwält:innen. Rastlos und noch weitgehend ohne Konzept. Hauptsache zusammen sein, gemeinsam trauern und treffen. Der Wut sinnvolle Bahnen suchen. Es war ein zusammengewürfelter Haufen, der sich schließlich den Namen „Initiative 19. Februar“ gab. Der zunächst jeden Montag Abend in der Metzgerstrasse zusammenkam. In dem der Vorschlag für einen neuen Raum reifte. Der dem Termin mit dem Makler und der Entscheidung des Besitzers entgegenfieberte. Aus diesem Kreis wurde auch die erste monatliche Gedenkaktion am 19. März in Kesselstadt vorbereitet. Mittlerweile unter Corona-Bedingungen. An der mehrere Opferfamilien und Überlebende teilnahmen. Auf der das gemeinsame Versprechen erneuert wurde: kein Vergessen, keine Ruhe bis zur lückenlosen Aufklärung. Und wo es erstmals die Runde machte, dass es demnächst am Heumarkt einen eigenen Raum geben würde.
21. März 2020, Krämerstrasse 24
Ein Tag nach der Schlüsselübergabe begannen Umbau und Renovierung. Zunächst mit Planungstreffen, Aufräumen und Putzen. Der große Vorderraum ließe sich mit wenigen Stunden Arbeit zu einem provisorischen Treffpunkt einrichten. Eine kleine Toilette gab es noch im ansonsten leeren Hinterraum, der in den kommenden Wochen zu Büro und Küche inklusive zweiter Toilette umgebaut wurde. Im Schatten der anlaufenden Baustelle starteten noch Ende März die ersten Begegnungen und Beratungen. Die ersten Treffen mit Tee aus dem Wasserkocher. Doch sobald die Küche fertig renoviert wäre, würde der große Samowar kommen, dessen dampfendes Dauergeräusch die Bedeutung der „gemeinsamen Tasse Tee“ auch akustisch im gesamten Raum präsent hält: Zeit füreinander zu haben und sich zuzuhören.
Corona legte in diesen Tagen das öffentliche und soziale Leben weitgehend still. Es waren sicherlich über 100 Menschen, die in Hanau durch den 19. Februar schwer traumatisiert wurden. Und jetzt machte alles dicht. Die Katastrophe in der Katastrophe. Doch Arbeiten war erlaubt, die Baustelle Krämerstrasse blieb geöffnet. Trotz und gegen alle Einschränkungen. Zunächst für maximal fünf Personen, dann höchstens noch zu zweit. Aber immer offen. Um gemeinsam zu trauern und zu weinen. Um zu reden und zu beraten. Um sich gegenseitig zu versichern, dass es keine Ruhe geben würde, bis alles aufgeklärt sei. Und diese Mordtat Konsequenzen hätte.
Ein erstes Konzeptpapier entstand im April. Darin hieß es zusammenfassend:
„Der Raum für die Anlaufstelle in unmittelbarer Nähe am Heumarkt wurde bewusst gewählt. Denn dieser Tatort wird auch einer der Gedenkorte bleiben. Und hier gibt es viele Nachbarn, die mit der Tat unmittelbar konfrontiert waren. In ersten Gesprächen schätzen und befürworten viele AnwohnerInnen die Idee einer antirassistischen Begegnungsstätte. Das Konzept – oder besser der Konzeptprozess – für diesen sozialen Ort ist insbesondere darauf ausgelegt, Betroffene im weitesten Sinne in die Raum- und dann auch Programmgestaltung einzubeziehen. Vom Namen über die Einrichtung bis zu den Beratungs- und Veranstaltungsangeboten soll sich die Anlaufstelle flexibel und an den Bedürfnissen der Betroffenen orientiert (weiter) entwickeln. In den vergangenen Wochen sind vielfältige Kontakte mit Familienangehörigen entstanden, mit Verletzten und Überlebenden des rassistischen Anschlags, mit Freund:innen der Betroffenen sowie mit Nachbar:innen. Auf dieser Basis soll die Krämerstrasse 24 zu einem niedrigschwelligen Treffpunkt mit unterschiedlichen Angeboten werden, die den Betroffenen im Umgang mit ihren Traumata zur Seite steht und stabilisiert, sie in ihren Interessen unterstützt und Raum für gemeinsame Initiativen eröffnet.“
April 2020 – „Das Wohnzimmer der Familien“
Die Gedenkkundgebung am 19. März und alle möglichen Kontakte ließen die Krämerstrasse 24 sehr viel schneller und intensiver als erwartet zum sozialen Raum von und mit den Betroffenen des 19. Februar werden. „Der Laden“, wie der Treffpunkt innerhalb der Initiative genannt wurde, entwickelte seine eigene Dynamik noch vor der offiziellen Eröffnung. Insbesondere durch die Nutzung und Aneignung der Familien der Opfer. Ob wegen Briefen an die Behörden oder um sich zu Recherchen auszutauschen: es gab alle möglichen Anlässe für einen Besuch. Und einen zentralen Grund, dann jeweils länger zu bleiben oder bald wiederzukommen: nämlich sich nicht erklären zu müssen. Beileidsbekundungen – sicherlich gut gemeint – waren für die Angehörigen kaum mehr zu ertragen und die Frage „Wie geht es?“ noch weniger. Im Laden war das anders. Hier trafen, trauerten und redeten sie mit denjenigen, die das gleiche Leid durchmachten. Die ebenfalls ihre Kinder oder Verwandten verloren hatten. Ein Raum, um für sich selbst und mit den anderen Familien eine Einordnung des Geschehenen zu suchen. In dem nützliche oder notwenige Kontakte hergestellt werden können. Ein geschützter Ort, wo gesagt werden kann, wie es einem geht, aber nicht muss.
Schnell war klar, dass der große Raum eine Gedenkecke braucht. In der die Fotos der verlorenen Kinder präsent sind, in der vor Blumen und Kerzen zusammen nachgedacht und getrauert, leise geredet oder auch geweint werden kann. So wuchs bereits im April eine Schicksalsgemeinschaft zusammen, begleitet von den UnterstützerInnen aus der Initiative, die die Zeit hatten oder sich nahmen, um zuzuhören und zu helfen, wo immer es gefragt oder erwünscht war.
In diesen Wochen wurde der Raum gemeinsam eingerichtet. Mit einem Sammelsurium gespendeter Möbel, die doch irgendwie gut zusammen passen und wärmenden Charme ausstrahlen. Klobige rötliche Sessel samt Sofa als zentraler Sitzecke. Kleine Hocker an kleinen Tischen an der Fensterfront, die – sobald es das Wetter zulässt – für Raucherpausen vor die Eingangstür auf den Bürgersteig umziehen. Schwemmholzstücke von korsischen Stränden neben einer Orchidee und anderen Zimmerpflanzen. Netze an den Wänden, um mit kleinen Klammern Fotos aufzuhängen – von denen, die im Laden gemeinsam frühstücken oder zusammen demonstrieren, die gemeinsam versuchen, Handlungsfähigkeiten zurück zu gewinnen.
1. Mai in der Krämerstrasse
Die Umbau- und Renovierungsarbeiten konnten bereits Mitte April weitgehend abgeschlossen werden. Der zusätzliche Büroraum und die neue Küche konnten sich sehen lassen. Der „Raumprozess“ war fühlbar, die offizielle Eröffnung war auf den 5. Mai datiert. Zumal die Corona-Krise am Abflauen war und Treffens-Beschränkungen nach und nach gelockert wurden. Während die Gewerkschaften zum 1. Mai in Hanau alles abgesagt hatten, wurde im Laden ein Treffen verabredet. Am frühen Nachmittag fanden sich Angehörige mehrerer Opferfamilien in gemeinsamer Runde im Sofa-Eck zusammen. Aus einer Notiz vom gleichen Abend: „Wir hatten heute ein starkes und schweres gemeinsames Treffen mit 7 Angehörigen (aus 4 Opferfamilien). Eigentlich wollten wir über die Gestaltung der Gedenkecke sprechen, darum ging es aber nur kurz. Und dann kam ganz vieles auf den Tisch: von rassistischen Kontrollen in Kesselstadt über das Versagen der Polizei im Vorfeld, von Rekonstruktionen des Tatablaufs und der für alle zentralen Forderung nach lückenloser Aufklärung bis zur Konfrontation mit und der Infragestellung von mehr als fragwürdigen und herzzerreißenden Obduktionsverfahren. Tiefe Gespräche mit geteilten Blicken in die Abgründe dessen, was da am 19.2. angerichtet wurde. ´Ort der Begegnung und des Vertrauens`, das war heute Nachmittag einmal mehr und in besonderer, kollektiver Form gelungen. Der Raum entwickelt sich also auf allen Ebenen.“
Das Gespräch war schnell sehr laut und emotional geworden. Nicht im Streit. Eher in einer Spirale des Schmerzes, die hör- und fühlbar wurde. Und sich über die Grenze des Erträglichen weiter hochdrehte. Ein Lernprozess zwischen Trauma und Trauer, um Schmerz zu teilen. Und längerfristig zu heilen? Aber gab es nicht auch die Gefahr, dass sich die Angehörigen gegenseitig überfordern? Mit den „geteilten Blicken in die Abgründe“ noch tiefer zu fallen? Auch solche Fragen würden sich in den kommenden Wochen und Monaten immer wieder neu stellen.
5. Mai 2020 – die Eröffnung
Die „Kamera der Initiative“ war von Anfang an bei fast allen Situationen dabei. Es wurde nie etwas dazu gemeinsam entschieden und erst im Laufe der Zeit über Tabus gesprochen, an die sich „unser Kameramann“ fast immer intuitiv hielt. Die klare Vorgabe: die Würde und die Wünsche der Betroffenen zum Ausgangspunkt der Darstellung zu machen. Es gab keine kollektive Planung, auch wenn Einzelne in der sich noch findenden Initiative davon ausgingen, dass die filmische Dokumentation auch nachträglich von Bedeutung sein würde. Zu den Gedenkaktionen am 19. März und zum 19. April veröffentlichte die Initiative ihre ersten Video-Clips. Am 5. Mai, zur Eröffnung des Ladens, dann den so beeindruckenden Kurzfilm für die „140 qm gegen das Vergessen“. Schwer und stark gleichzeitig, die Mischung aus Trauer, Schmerz, Widerstandswillen und gegenseitiger Ermutigung. In berührender Weise eingefangen, welcher Prozess im neu geschaffenen Raum in Gang gekommen war. Mit der unvergesslichen Stelle zum gegenseitigen Kraft nehmen und geben: „Aber nicht tanken. Wir sind doch kein Auto“.
Der 5. Mai war ein Dienstag, auf 17 Uhr wurde eingeladen. Schnell war der Laden voll, zu voll. Es gab natürlich Verabredungen, wie die Corona-Einschränkungen einzuhalten und dass wir die Zahl der Menschen im Raum auf 15 begrenzen müssen. Wir waren entschieden, diese Vorgabe zu halten, jedenfalls, wenn es um Besucher:innen aus anderen Städten ging, die uns ihre Solidarität zeigen wollen. Doch die große Mehrzahl der Gäste waren Hanauer:innen, die Angehörigen der Opfer, Überlebende und Freund:innen. Die sich einfach umarmen und berühren wollten und mussten. Die näher zusammen sitzen wollten und mussten, als es Corona eigentlich erlaubte. Es fiel entsprechend schwer, angesichts dieser so beeindruckenden Zusammensetzung auf Abstände zu pochen. Wir hatten zunächst eine gute Portion Glück, und späterhin zudem zwei gespendete teure Luftfilter, die vermutlich dazu beigetragen haben, dass es im Laden trotz Dauerbetrieb bis Februar 2021 zu keinerlei Infektionen kam.
Mit dem 5. Mai, mit den Berichten in der Hessenschau und in vielen Zeitungen wurde die Anlaufstelle breit bekannt. Offensichtlich gelang es insbesondere mit dem Videofilm gut zu vermitteln, warum es diesen sozialen Raum braucht. Und dass eine unabhängige Finanzierung nötig ist. Die Spendenkampagne auf betterplace war mit der Zielmarge 100.000 Euro versehen. Diese Summe erschien Einigen in der Initiative unerreichbar hoch angesetzt, doch es setzten sich glücklicherweise diejenigen durch, die damit argumentierten, dass die Kampagne ja auch mehrere Jahre laufen könne und es doch darum ginge, die Miete und die laufenden Kosten für den zunächst dreijährigen Mietvertrag komplett abzudecken. Es war kaum zu glauben und toll zu sehen, wie der Spendenfluss sich in den darauffolgenden Wochen entwickelte und insbesondere mit der Kundgebung vom 22. August nochmal stark anstieg. Heute, im Februar 2021 haben wir die Miete und Betriebskosten für die drei Jahre komplett abgedeckt.
Juli 2020 – Von Vorhängen und Fahnen
Die Gedenkecke prägt den gesamten Raum. Schwer und stark zugleich. Die Gesichter der Toten strahlen aus, ihre Augen lassen niemanden entkommen. Warum sind wir gestorben? Fotos, Zeichnungen, Kerzen, der eckige Tisch, klobige Kunstledersessel. Immer frische Blumen. Alle reden leiser, wenn sie hier sitzen. Wenn sie dort überhaupt reden.
Für alle Eltern war klar, dass es diesen Teil des Raumes braucht. „Das Wohnzimmer der Kinder“. Doch es gab bereits früh die Frage, wie dominant und allgegenwärtig die Ecke sein müsse oder dürfe. Der Umgang und die Meinungen waren bei den Familien sehr unterschiedlich. Als ein befreundeter Künstler im Mai zu Besuch war und einige Vorschläge für die weitere Raumgestaltung machte, ging es nicht zuletzt um die Gedenkecke. Zumindest zeitweise mit Raumteilern abtrennen oder nicht? Vorhang ja oder nein?
„Ich möchte, dass die Kinder immer zu sehen sind. Und wenn ich es mal nicht ertragen kann, dann setze ich mich in einen Stuhl oder Sessel mit dem Rücken zu den Fotos.“
„Ich fände gut, wenn es zusätzlich die Möglichkeit gebe, die Ecke zu einem intimeren Raum zu machen. Wo ich trauern oder weinen kann, ohne das Gefühl, beobachtet zu werden.“
Für beide Herangehensweisen gibt es Verständnis von anderen. Es sind nicht zuletzt solche Gespräche, die Vertrauen zueinander schaffen. Die allen zeigt, wie gut es ist, unterschiedliche Blickwinkel und Gefühle auszutauschen. „Der Vorteil von Vorhängen ist, dass sie verschwinden können.“ Der befreundete Künstler trifft die Verbindung und seit der Vorhang installiert ist, wurde er nur seltenst zugezogen. Die Option bleibt dennoch wichtig.
Szenenwechsel zu einer Diskussion im Vorfeld der geplanten Demonstration am 22. August. Zwei Wochen zuvor, am 19. Juli, hatten die Angehörigen den Aufruf erstmals auf dem Marktplatz öffentlich verlesen. Zur Mobilisierung sechs Monate nach der Tat. Und jetzt ging es um das gewünschte Bild und die konkrete Vorbereitung.
„Wir wollen keinerlei Fahnen. Das Gedenken und unsere Forderungen haben nichts mit einem Land oder einer Nation zu tun.“ Mit Blick zurück auf die zwei Demonstrationen am 22. und 23. Februar in Hanau gab es dazu unter den Familien eine schnelle Einigkeit. Am 22.2. gab es im ersten Teil der Demonstration eine Reihe kurdischer Fahnen. Am 23.2. fanden sich auf der Demonstration verteilt immer wieder türkische Fahnen, darunter auch eine besonders große, die horizontal mitgetragen wurde. Das sollte sich nicht wiederholen. Keine Fahnen. Es wurde verabredet, dass ein entsprechender Hinweis in den Aufruf und auf die Webseite übernommen wird. Und dass Teilnehmer:innen, die zur Demonstration kommen und sich nicht daran halten, von Ordner:innen freundlich aber bestimmt aufgefordert werden, alle Nationalfahnen wieder einzupacken.
Dann tauchte noch eine Idee auf. „Warum nehmen wir nicht alle deutsche Fahnen mit? Wir leben hier, wir sind Deutschland. Das würde alle Rechten besonders irritieren und für viel Aufmerksamkeit sorgen“. Einige Unterstützer:innen reagierten entgeistert. Das ginge gar nicht. Warum eigentlich nicht? So die Gegenfrage. Und es kam in Erinnerung, dass Menschen ohne Aufenthaltspapiere in den USA bei Massenprotesten für ihre Legalisierung mit US-Fahnen unterwegs waren. Um auszudrücken: „Wir sind Amerika“.
Doch der Vorschlag für deutsche Fahnen war letztlich wieder schnell vom Tisch. Alle sahen ein, dass es nach einer solchen Demonstration insbesondere in den Medien vor allem ein Thema geben würde: eben diese Deutschlandfahnen. Das wäre kontraproduktiv. Denn im Mittelpunkt müssten vielmehr unsere vier Forderungen stehen: Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung, Konsequenzen. Davon sollte nichts ablenken, schon gar nicht Fahnen.
September 2020 – Zwischen Geduld und Wut
Ibrahim Arslan, unser Genosse aus Hamburg war zu Gast im Laden. Er hat 1992 als siebenjähriger den rassistischen Brandanschlag von Neonazis in Mölln überlebt. Seine Schwester und eine Cousine kamen ums Leben. Auch seine Grossmutter starb, nachdem sie ihn kurz vorher in nasse Handtücher gewickelt hatte. Deshalb wurde er in letzter Minute von „Aliens“ gerettet. So blieben ihm die Feuerwehrmänner mit den Rauchmasken damals in Erinnerung.
Heute machte er seit vielen Jahren antirassistische Schulprojekte. Er geht in die Klassen und redet mit den Schüler:innen über seine Erfahrung. Und über den alltäglichen und strukturellen Rassismus in der Gesellschaft. Zudem ist er in bundesweiten Vernetzungen der Selbstorganisierung aktiv. Damit diejenigen reden und eine Stimme bekommen, die direkt von rassistischer Gewalt betroffen sind. Eine langfristige Strategie der Überzeugung, die viel Geduld erfordert.
Der Freund brachte einen neuen Film mit: „Der zweite Anschlag“. Eine Dokumentation, in der Betroffene von rechter Gewalt berichten, wie der gesellschaftliche Umgang nach der eigentlichen Tat – nicht zuletzt in den Medien oder von Politiker:innen – zu noch mehr Schmerz und Verletzungen führt. Oder gar Opfer zu Tätern zu machen versucht. Und vor allem, dass es sich dagegen zu wehren und zu organisieren gilt.
Mehrere Angehörige der Hanauer Opferfamilien, einige jugendliche Freund:innen und Unterstützer:innen der Initiative sahen den Film und folgten dem beeindruckenden Erfahrungsbericht.
Im anschließenden Erfahrungsaustausch kam es zu einer hochemotionalen und gleichzeitig hochpolitischen Auseinandersetzung. Ein Angehöriger aus Hanau begann zunächst ruhig, das Engagement des Hamburger Freundes wertzuschätzen und zu würdigen. Dann machte er allerdings klar, dass er selbst diese Geduld nicht aufbringen könne und auch nicht sehen würde, dass es eine erfolgreiche Strategie wäre. Offensichtlich würden die Rechten auf der Strasse wie in den Parlamenten trotz aller Bemühungen immer frecher und brutaler, der zeitliche Abstand zwischen den rassistischen Attentaten würde immer kürzer. Auch in Hanau seien wir nach dem Anschlag viel zu brav und geduldig geblieben und die Quittung wäre doch, dass quasi nichts passiere: keine Aufklärung, keine Konsequenzen.
Ibrahim stimmte zu, dass der Rassismus schärfer und intensiver würde, aber dass es gleichzeitig auch wichtige Zwischenerfolge gebe und auf längere Sicht einiges im Positiven verändert habe. 1993 habe der damalige Kanzler Kohl abgelehnt, die Überlebenden in Solingen zu besuchen und dies als „Mitleidstourismus“ abgetan. Heute fliegen Kanzlerin und Bundespräsident ein und bezeichnen die Tat als eindeutigen Rassismus. Diese Benennung war noch vor einigen Jahren keinerlei Selbstverständlichkeit. Wir haben heute sehr viel mehr Gehör in den Medien. Dass es für Hanau diese große Öffentlichkeit gebe, dass die Angehörigen derart stark auf einer Kundgebung auftreten und hier in der Krämerstrasse diesen eigenen sozialen Raum haben, sind alles wichtige Fortschritte in Vergleich zu früher.
Der Hanauer Angehörige räumte ein, dass zwar heute der Rassismus klarer benannt würde, dass dies aber faktisch nichts ändere. Vielmehr diene das auch dazu, die Betroffenen mit Worten abzuspeisen und zum Stillhalten zu bringen. Er führte wütend aus, was für ihn nach dem 19.2. der „zweite Anschlag“ war: die Obduktionen und wie er seinen Bruder, der ohne Grund von oben bis unten aufgeschnitten wurde, in krassem Zustand waschen musste. Und lauter und im Stehen: „Ich kann nicht mehr richtig schlafen und ich brenne. Was hätte mein Bruder getan, wenn es mich getroffen hätte? Geduld und warten? Worauf soll ich warten? Wir werden doch verarscht. Wir müssten auf die Strassen gehen, als Gelbwesten gegen Rassismus, mit Aktionen, die den Regierenden weh tun, die sie Geld kosten. In den USA wurde ein Schwarzer ermordet und viele Tausende machten Krawall in vielen Städten. Ist das nicht die einzige Sprache, die die Verantwortlichen verstehen? Und wenn ich dafür in den Knast komme, dann habe ich es wenigstens versucht und könnte jedenfalls ruhiger schlafen als jetzt.“
Eine zweite Angehörige stimmt nachdenklich mit ein. „Er hat eigentlich auch Recht. Vielleicht ist es der falsche Weg. Aber ich verstehe ihn. Ich fühle sehr oft genau so. Es ist so schwer mit der Geduld.“
Ibrahim fasst den aufgelösten Hanauer Bruder an den Armen und argumentierte erneut geduldig: „Wem bringt es was, wenn Du im Knast sitzen würdest. Wir brauchen Dich. Du hast eine starke Stimme. Die Rechten wollen doch, dass wir mit Gegengewalt reagieren. Um uns zu isolieren und weiter zu hetzen und noch stärker zu werden. Das ist eine Falle.“
Ein Unterstützer meldete sich zu Wort: „Bewegen wir uns nicht immer wieder zwischen Geduld und Wut. Eure Diskussion erinnert mich an den politischen Streit zwischen Martin Luther King und Malcolm X. Brauchen wir nicht beides und beide? Für eine gemeinsame Strategie, die wir zusammen entwicklen müssen?“
Januar 2021 – Die Aneignung der Medien
Ein großer grauer Hintergrundstoff ist aufgespannt, ein zusätzlicher Leuchtstrahler aufgebaut. Der Laden sieht aus wie ein Filmstudio. Foto-Shooting für eine Reportage, die kurz vor dem Jahrestag des Anschlags im Spiegel erscheinen soll. Ein Journalistenduo hatte sich Zeit genommen, ungewöhnlich viel Zeit. Über viele Wochen waren sie regelmäßig im Laden. Um mit allen neun Familien ins Gespräch zu kommen und die unterschiedlichen Stimmungen für einen Artikel einzufangen. Über drei Tage hinweg gab es zum Abschluss nun Fototermine und alle kamen. Einzelfotos, Porträts, Gruppenfotos von allen neun Familien. Zudem eine besonders starke Aufstellung mit drei der Überlebenden aus Kesselstadt. Gemeinsam mit dem Baby, das wenige Monate nach dem Anschlag geboren wurde. „Wer sich mit Hanau anlegt, legt sich mit der falschen Stadt an.“ Der freche Satz aus dem Aufruf vom August kam bei diesem Bild sofort wieder in den Sinn.
Die starken Stimmen aus Hanau. Mitglieder aller Familien hatten in den vergangenen Monaten immer besser gelernt, mit den Medien zu sprechen. Und das Interesse der Journalist:innen war in den Wochen vor dem Jahrestag wieder besonders groß. Zudem gab es einiges zu enthüllen. Die Kette behördlichen Versagens vor, in und noch nach der Tatnacht wurde an immer mehr Punkten offensichtlich. Sie selbst, die Angehörigen, hatten es recherchiert und erzwungen, dass darüber geredet und geschrieben werden musste. Waffenerlaubnisse ohne Zuverlässigkeitsprüfung, verschlossener Notausgang, ein nicht funktionierendes und unterbesetztes Notrufsystem. Dazu der polizeiliche Umgang mit den Überlebenden und Angehörigen in der Tatnacht, der gleichermaßen von Überforderung und Rassismus geprägt war. Darüber konnten und wollten alle Betroffenen selbst sprechen. Aus eigenem Erleben mit vielen Stimmen. In Tageszeitungen und Magazinen, im Fernsehen und Audio auf allen wichtigen Kanälen. Kurz vor dem Jahrestag gelang damit eindrucksvoll, den Druck auf Politik und Behörden massiv zu steigern. Selbst der Hanauer Oberbürgermeister forderte nun den Rücktritt des hessischen Innenministers. Die Forderung nach lückenloser Aufklärung schallte den politisch und polizeilich Verantwortlichen von allen Seiten um die Ohren.
Der soziale Raum als Rückendeckung
Gute zehn Monate besteht die Krämerstrasse, wenn dieser Text im Februar 2021 erscheint. Viel schneller und viel tiefer haben sich Prozesse des Zusammenkommens entwickelt, als die Initiator:innen sich dies ein knappes Jahr zuvor auch nur annähernd vorstellen konnten. Ein wichtiger sozialer Ort werden die „140 qm gegen das Vergessen“ über den Jahrestag hinaus in den kommenden Monaten sicherlich bleiben. Zumindest eine Rückendeckung, wenn die Angehörigen – wie Ende Oktober angekündigt – demnächst ihren eigenen Verein gründen und dann eventuell auch eigene, neue Räume finden. Möglich, dass sich Schwerpunkte verschieben, dass mit der Zeit unterschiedliche Interessen und Herangehensweisen der Familien, die in Stresssituationen auch immer mal wieder interne Konflikten und Blockaden mit sich bringen, zu veränderten Strukturen und Neuausrichtungen führen.
Die in Planung befindliche zentrale Gedenkstelle der Stadt Hanau, die weitere juristische Aufarbeitung bis hin zu einer gemeinsamen Staatshaftungsklage wird die Familien absehbar auf unterschiedlichen Ebenen zusammenhalten. Die Erfahrung, dass sie gemeinsam eine Stärke entwickelt haben, um mit ihren Stimmen wirkungsvoll die Öffentlichkeit zu erreichen sowie Politiker und Behörden mit ihrem Versagen zu konfrontieren, kann ihnen niemand mehr nehmen. Die Bildungsinitiative Ferhat Unvar erscheint als erster perspektivischer Versuch einer Familie, ihre Trauer und Wut in einen Alltagskampf gegen den strukturellen Rassismus in Schulen zu übersetzen und davon betroffene Mütter und Schüler:innen zu unterstützen. In den letzten Monaten fanden erste gegenseitige Besuche und Treffen statt, mit Überlebenden aus Mölln und Halle wie auch mit Betroffenen und Aktiven aus Köln, Hamburg, Berlin und Kassel. Erste Schritte der Beteiligung an einer bundesweiten Vernetzung sind damit in Gang gekommen.
Die starken Stimmen der Angehörigen und Überlebenden aus Hanau werden absehbar auch nach dem ersten Jahrestag nicht verstummen. Vielmehr tragen sie das Potential in sich, der Selbstorganisierung von Betroffenen rassistischer Übergriffe und Anschläge neue Impulse zu geben. Als Initiative 19. Februar werden wir diese unterschiedlichen Ansätze der Selbstorganisierung mit allen Kräften weiter unterstützen. Nicht zuletzt im sozialen Raum in der Krämerstrasse, in dem die Gesellschaft der Vielen nicht nur gefordert sondern auch gelebt wird.