Die Sitzung des Untersuchungsausschusses im Hessischen Landtag zu Hanau am 14.10.2022 tagte – von kurzen Pausen abgesehen – bereits fast 12 Stunden, als es am späten Abend zu zwei bemerkenswerten Szenen kam. Zwei Parlamentarier spitzten die Fragen und Widersprüche zur Einstellung des Ermittlungsverfahrens in Sachen verschlossenem Notausgang zu.
Dieser Text ist Teil einer Reihe von aktuellen Einschätzungen zum Untersuchungsausschuss im Hessischen Landtag (UNA 20/2) zum rassistischen Terroranschlag am 19.2.2020 in Hanau. Der öffentliche Teil des Untersuchungsausschusses begann im Dezember 2021, der Ausschuss wird bis zum Sommer 2023 weiter tagen. Die Textreihe versucht, zu einzelnen Themenkomplexen einen Zwischenstand wiederzugeben. Ein weiterer Baustein unserer eigenen Aufklärung.
Der verantwortliche Staatsanwalt aus Hanau, Martin Links, hatte gerade erst seinen fast einstündigen Vortrag beendet, in dem er einmal mehr zu rechtfertigen versuchte, warum er das Verfahren eingestellt hatte. Davon unbeeindruckt stellte ein Abgeordneter folgende Frage: „Wenn einer der jungen Männer in Richtung des verschlossenen Notausgangs geflohen und vor der verschlossenen Tür zu Tode gekommen wäre, hätte das Ihre Beurteilung geändert?“ Staatsanwalt Links sagt eine Weile nichts, erkennbar verunsichert antwortete er dann fast leise: „Wahrscheinlich, ja.“
Im Schlussteil der Befragung kam ein anderer Abgeordneter nochmals auf diesen Widerspruch zurück. Sinngemäß sagte er, dass es doch zynisch sei, wenn das Verfahren nur deswegen eingestellt würde, weil niemand direkt vor der Notausgangstür ermordet wurde. Damit würden die Opfer ja quasi nachträglich selbst dafür verantwortlich gemacht, dass sie wegen des verschlossenen Notausgangs in den hinteren Teil der Bar fliehen mussten. Und ob ihm – dem Staatsanwalt – nicht klar sei, dass dies den Angehörigen der Opfer nicht mehr vermittelbar sei. Martin Links musste erneut schlucken, um dann aber lapidar zu entgegnen, dass er sich an höchstrichterliche Urteile gebunden sehe.
Die Gründe zur Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft
Der Staatsanwalt aus Hanau hatte sich in ihrer Entscheidung zur Einstellung des Verfahrens im August 2021 im Wesentlichen auf drei Ermittlungsergebnisse bezogen. Zum ersten wäre nicht klar gewesen, ob der Notausgang in der Nacht wirklich verschlossen war. Oder im Beamtendeutsch: „Die Verschlussverhältnisse des Notausgangs in der Nacht vom 19.02.2020 (konnten) nicht mit hinreichender Sicherheit aufgeklärt werden.“ Zum zweiten hätte für die Opfer angeblich die Zeit nicht ausgereicht, den Notausgang zu erreichen. Dazu aus der Einstellungsverfügung: „Es kann vor diesem Hintergrund insgesamt nicht mit der erforderlichen Sicherheit davon ausgegangen werden, dass es den später Getöteten S. H. und H. K. in diesem kurzen Zeitraum gelungen wäre, die Notausgangstür zu erreichen, diese zu ööffnen und die Arena-Bar durch die Notausgangstür zu verlassen.“ Als dritte zentrale Einstellungsbegründung wurde angeführt, dass „aufgrund des natürlichen Fluchtinstinkts, sich von einer Gefahrenquelle wegzubewegen“ davon auszugehen sei, dass die Betroffenen in die hintere Ecke der Bar geflüchtet wären. Insbesondere dieses letzte Argument machte Staatsanwalt Links im Untersuchungsausschuss am 14.10.22 nochmals stark, indem er minutenlang ein Standbild eines nachgestellten Videofilms präsentierte. Dieses Foto sollte demonstrieren, wie aus der Perspektive der Betroffenen der Eingangsbereich wahrgenommen wurde und dass es kaum vorstellbar sei, dass jemand dem dort hereingekommenen Täter schräg entgegengelaufen wäre, um zum Notausgang zu gelangen.
Die Demontage der Einstellungsgründe durch Forensic Architecture und Zeug:innen im Untersuchungsausschuss
Anfang September 2022 haben zwei Polizei-Zeugen, die mit der Tatortaufnahme befasst waren, im Untersuchungsausschuss bekräftigt, dass der Notausgang in der Tatnacht verschlossen war. Etris Hashemi sowie Piter Minnemann, Überlebende aus der Arena-Bar, haben jeweils nochmals bestätigt, dass sie davon ausgehen mussten, dass die Tür verschlossen war. Weitere Personen aus Kesselstadt haben bezeugt, dass die Tür in aller Regel nicht zu öffnen war. Neue Belege aus der Videoauswertung der Tatnacht machen deutlich, dass die Tür verschlossen gewesen sein musste. Im Ausschuss waren sich schlussendlich alle einig, dass es keine Frage mehr sei und selbst Staatsanwalt Links relativierte seinen Passus in der Einstellungsverfügung: der Notausgang war in der Tatnacht zu. Damit war das erste Argument für die Einstellung des Verfahrens hinfällig.
Zum zweiten Punkt, also ob der Notausgang objektiv erreichbar gewesen wäre, hatte Forensic Architecture bereits im Dezember 2021 eine akribisch recherchierte Videorekonstruktion veröffentlicht. Sie wurde von Etris Hashemi bei seiner Aussage am 20.12.21 im Untersuchungsausschuss eingebracht. Am 14.10.22 war dann mit Robert Trafford schließlich einer der Forensiker im Ausschuss als Sachverständiger geladen, um die Untersuchung zum Notausgang den Parlamentarier:innen vorzustellen. Erwartungsgemäß haben einige Parteienvertreter versucht, mit wüsten Szenarien – z.B. „der Barkeeper hätte über den Tresen springen und sich damit in den Weg stellen können“ – die Ablaufrekonstruktion in Frage zu stellen. Doch an der Tatsache, dass die Betroffenen neun Sekunden hatten, um den Notausgang zu erreichen und dass sie dies zeitlich hätten schaffen können, war nicht zu rütteln. Insofern war auch das zweite Argument der Staatsanwaltschaft zur Einstellung widerlegt.
Als dritter Punkt blieb insofern nur noch der subjektive Faktor, den Staatsanwalt Links – wie einleitend dargestellt – dann am 14. Oktober auch entsprechend stark gemacht hatte. Doch direkt vor ihm war als Sachverständige eine Professorin für Psychologie und Führungslehre, Dr. Birgitta Sticher, im Ausschuss aufgetreten. Sie lehrt und forscht zu menschlichem Verhalten in Gefahren- und Bedrohungslagen. Entgegen der allgemein verbreiteten Annahme legte sie dar, dass Menschen in Extremsituation nicht einfach panisch reagieren und von Gefahren weg flüchten, sondern dass blitzschnelle rationale und soziale Abwägungen im Gehirn ablaufen, die scheinbar überraschende Reaktionen ermöglichen. Im Hinblick auf die konkreten Fragen in der Arena-Bar wurde deutlich, dass es durchaus denkbar gewesen wäre, dass die Betroffenen in der vorliegenden Situation gemeinsam zum Notausgang gerannt wären, wenn sie sich dadurch hätten Schutz versprechen können. Und die Sachverständige betonte nochmal aus ihrer Forschungspraxis, wie wichtig es ist, den Überlebenden zuzuhören und ihnen zu glauben.
Noch bevor Staatsanwalt Links den Saal betreten hatte, stellte diese Professorin also sein zentrales, drittes Argument komplett in Frage. Vor diesem Hintergrund musste Links sich dann auch fragen lassen, warum er nicht selbst entsprechende Gutachten und Untersuchungen in Auftrag gegeben habe, die seine Vermutungen zum Fluchtverhalten überprüfen hätten können. Darauf wusste er keine Antwort und seine anfangs zur Schau getragene Selbstsicherheit war zum Ende der Sitzung sichtlich erschüttert.
Keine juristischen Folgen, aber politisch immer unglaubwürdiger
Um es nochmal zusammenfassend zu formulieren: alle Argumente der Staatsanwaltschaft für eine Einstellung des Verfahrens bezüglich des verschlossenen Notausgangs wurden in den Sitzungen des Untersuchungsausschusses widerlegt. Doch mit Selbstkritik oder gar einer Wiederaufnahme des Verfahrens kann dennoch nicht gerechnet werden. Zur Erinnerung: die Staatsanwaltschaft Hanau hatte niemals von sich aus ermittelt, sondern damit erst begonnen, als ihr mit der Anzeige von Opferfamilien keine Alternative mehr blieb.
Der verschlossene Notausgang von Hanau wird also absehbar ohne juristische Konsequenzen bleiben. Es sei denn, es gebe noch irgendwann beweiskräftige Informationen, die die Aussagen von Überlebenden und weiteren Zeugen belegen können, dass es Absprachen zwischen Barbetreiber und der Polizei gab. Bislang konnte dieser Vorwurf als Falschbehauptung abgeblockt werden.
In der Gesamtschau bestimmen die Aussagen der Angehörigen und Überlebenden nachhaltig das Bild in der Öffentlichkeit. Ob zum unwürdigen Umgang mit den Überlebenden und Hinterbliebenen, ob zum Organisationsversagen bezüglich des unterbesetzten und nicht funktionierenden Notrufs oder ob zum verschlossenen Notausgang: Kaum noch jemand folgt den immer unglaubwürdiger gewordenen Versionen der Polizei und der Staatsanwaltschaft. Bis heute bleibt es so: Kaum jemand zitiert die abgeschlossenen Ermittlungsverfahren. Vielmehr wird nahezu überall, wo „Hanau“ Thema ist, von den offenen Fragen gesprochen, auf die die Angehörigen und Überlebenden nach wie vor Antworten verlangen, die Ihnen die Behörden und Polizei bislang schuldig bleiben. Nach den erwähnten Sitzungen im Untersuchungsausschuss gilt dies mehr denn je für den verschlossenen Notausgang.