#saytheirnames — Newsletter der Initiative 19. Februar Hanau
Nr. 9 — Februar 2023
Liebe Freundinnen und Freunde.
„Drei Jahre Erinnerung und Aufklärung“ lautet der Titel der Ausstellung von Forensic Architecture zum rassistischen Anschlag in Hanau. Diese wird vom 1. Februar bis zum 18. März mehr als sechs Wochen lang im Foyer des Hanauer Rathauses zu sehen sein: mit regelmäßigen Führungen der Angehörigen sowie einem Begleitprogramm mit Veranstaltungen, einer Lesung und einem Theaterstück.
Der unmittelbare Anlass, diese Ausstellung nach Hanau zu holen, ist der bevorstehende dritte Jahrestag des rassistischen Terroranschlages: „Drei Jahre ohne Euch“. Am 19. Februar 2023 wird es in Hanau wie auch bundesweit in vielen Städten Gedenkaktionen und Kundgebungen geben.
Inhaltlicher Schwerpunkt dieser Ausgabe bilden drei Texte zum Untersuchungsausschuss im Hessischen Landtag. Damit ziehen wir eine erste Bilanz zum „UNA 20/2“, dessen öffentliche Sitzungen im Mai oder Juni 2023 zu Ende gehen werden.
Absehbar wird „Hanau“ trotz aller offensichtlichen Fehler, Versäumnisse und nachgewiesenem Organisationsversagen ohne – zumindest juristische – Konsequenzen bleiben. Doch das ist nicht das Ende der Geschichte. „Hanau“ heißt heute auch: Wer glaubt noch der Polizei, der Staatsanwaltschaft oder einem Innenminister?
Wir sagen weiter die Namen der Ermordeten und erinnern.
Die „starken Stimmen“ der Angehörigen und Überlebenden sind auch nach drei Jahren nicht verstummt. Und im Austausch mit Betroffenen-initiativen in anderen Städten wird der Kampf um Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung und Konsequenzen weitergehen.
Den vollständigen Newsletter zum Runterladen, Ausdrucken und Weiterverbreiten gibt es hier als PDF.
3 Jahre nach dem rassistischen Anschlag in Hanau:
Wir trauern und erinnern.
Drei Jahre ohne Euch!
Am 19. Februar 2023 zählen wir 1095 Tage, seitdem wir Ferhat, Hamza, Said Nesar, Vili Viorel, Mercedes, Kaloyan, Fatih, Sedat und Gökhan verloren haben durch einen rassistischen Mörder. Jahre, Monate und Tage vergehen, aber der Schmerz wächst weiter.
Der 19. Februar 2020 – an jenem Tag wurden unsere Liebsten auf brutale Weise aus unserem Leben gerissen. Die Wunden, die dieser Tag in uns hinterlassen hat, verheilen nicht. Jahre, Monate und Tage werden vergehen – der Schmerz bleibt.
Seit dem 19. Februar 2020 wissen wir auch, dass unsere Liebsten nicht nur ein Teil unseres Lebens waren. Im ganzen Land zeigten sich die Menschen mit ihnen verbunden. Sie gaben etwas ab von ihrer Zeit, ihrem Leben, ihren Ideen und ihrer Kraft, um die Trauer und die Wut gemeinsam zu tragen und die Erinnerung lebendig zu halten.
Wir haben versprochen, dass wir keine Ruhe geben werden.
Seit drei Jahren tragen wir Eure Namen überall hin.
Wir erzählen Eure Geschichten,
klagen über das, was passiert ist,
das, was nicht gesagt wird,
und das, was nicht verhindert wurde.
In diesen drei Jahren haben wir mit allen politisch Verantwortlichen gesprochen. Wir waren in Frankfurt, in Wiesbaden, in Berlin. Wir sind auf offene Türen und Ohren gestoßen. Aber nicht auf offene Herzen.
Uns wurde Gerechtigkeit versprochen. Und doch müssen wir auch zum dritten Jahrestag weiterhin nach Konsequenzen fragen, die es immer noch nicht gibt. Der Untersuchungsausschuss, der unsere Fragen beantworten sollte, wird seinem Auftrag nicht gerecht. Wir fragen uns, wie lange wollen hessische Sicherheitsbehörden noch vertuschen, wie lange noch schweigen, wie lange noch ignorieren?
Heute, fast drei Jahre später, wissen wir: die Grenze der Gerechtigkeit heißt Konsequenzen.
Ein Mahnmal auf dem Marktplatz gibt es bis heute nicht, wir kämpfen weiterhin darum, dass es ein Mahnmal auf dem Marktplatz in Hanau gibt.
Wir haben selbst recherchiert und aufgeklärt und unsere gemeinsame Ausstellung mit Forensis wird ab dem 1. Februar bis zum 18. März im Hanauer Rathaus sein.
Am Jahrestag am 19.02.2023 werden wir in Hanau, Offenbach und Dietzenbach auf den Friedhöfen im Stillen gedenken. Am Marktplatz wird es das offizielle Gedenken geben. Wir werden zusammen mit dem Hanauer Jugendbündnis ab 16 Uhr demonstrieren. Ab 21:30 Uhr versammeln wir uns mit Euch an den Tatorten am Heumarkt und in Kesselstadt, um nicht alleine zu bleiben.
Wir fordern Euch für den 19. Februar wieder dazu auf, an unserer Seite zu stehen. Organisiert auf den Straßen und Plätzen eurer Städte und Dörfer Kundgebungen, Demonstrationen, Gedenkaktionen. Erinnern heißt verändern.
“Die Wahrheit liegt in diesem Raum“
Zur Ausstellung von Forensic Architecture in Hanau
Vom 1. Februar bis zum 18. März 2023 wird im Foyer des Neustädter Rathauses die Ausstellung „Drei Jahre Erinnerung und Aufklärung“ präsentiert. Diese Ausstellung ist in Zusammenarbeit zwischen der unabhängigen Ermittlungsagentur Forensic Architecture/Forensis und uns Angehörigen, Überlebenden, sowie der Initiative 19. Februar Hanau entstanden.
“Die Wahrheit liegt in diesem Raum”, hatte Niculescu Păun, der Vater von Vili Viorel Păun, im Juni letzten Jahres formuliert, als diese Ausstellung das erste Mal in Frankfurt im Kunstverein gezeigt wurde.
Seit drei Jahren kämpfen wir, Angehörige und Überlebende, für lückenlose Aufklärung. Jeden Tag suchen wir nach Antworten auf unzählige offene Fragen und übernehmen dabei Aufgaben, die eigentlich die Behörden hätten erfüllen sollen. Unseren Forderungen nach Gerechtigkeit und Aufklärung wurde mit einer ohrenbetäubenden Stille begegnet und alle wissen, dass es zu Hanau keinen Gerichtsprozess gibt. Der parlamentarische Untersuchungsausschuss im Hessischen Landtag lässt bislang zentrale Fragen unbeantwortet und scheint ohne jegliche Konsequenzen zu bleiben, zumal die Landesregierung eine Aufarbeitung weitgehend blockiert.
Seit dem 19.02.2020 recherchieren wir rast- und pausenlos, um den wahren Abläufen vor, in und nach der Tatnacht näher zu kommen. Wir ermitteln und rekonstruieren, wir konfrontieren die Politik mit unseren Fragen, wir tragen die Erinnerungen an die Opfer in die Öffentlichkeit. Aus dieser Arbeit ist diese Ausstellung entstanden, die dazu beitragen soll, zu sensibilisieren und unsere Forderungen nach Aufklärung und Konsequenzen bei Behörden und in der Politik zu unterstreichen.
Mittels einer Zeitleiste, in Video-Rekonstruktionen und in Audio-Beiträgen wird die Tatnacht detailliert dokumentiert. Dabei werden nicht zuletzt Fehler und Versäumnisse der Polizei thematisiert. Ein zweiter Teil der Ausstellung zeichnet den Kampf der Angehörigen, Überlebenden und ihrer Unterstützerinnen und Unterstützer um Erinnerung und Aufklärung nach.
Als Bestandteil der Ausstellung „Three Doors“ wurden diese Exponate im Sommer 2022 erstmals im Frankfurter Kunstverein gezeigt, im November und Dezember 2022 dann im Haus der Kulturen der Welt in Berlin. Es wird in den kommenden Monaten Stationen in weiteren Städten geben.
Die Ausstellung ist ein Kooperationsprojekt von Forensic Architecture/Forensis, der Initiative 19. Februar Hanau, dem Haus der Kulturen der Welt in Berlin und dem Frankfurter Kunstverein mit Unterstützung der Stadt Hanau, des Kulturfonds Frankfurt Rhein-Main und der Bundeszentrale für politische Bildung.
Täglich geöffnet von 10 bis 17 Uhr bei freiem Eintritt.
Begleitprogramm zur Ausstellung
Mittwoch, 1. Februar 2023
„Drei Jahre Erinnerung und Aufklärung“
Eröffnung der Ausstellung um 19:00 Uhr
Mit Forensic Architecture/Forensis, Oberbürgermeister Claus Kaminsky, Angehörigen und der Initiative 19. Februar Hanau
Samstag, 11. Februar 2023
„Wir vergessen nicht!“
Autor:innen-Lesung um 18:30 Uhr im Lesecafé des Kulturforums Hanau, Am Freiheitsplatz 18a, 63450 Hanau. Die Veranstaltung wird auch per Live-Stream übertragen.
Mit dabei: Anna Yeliz Schentke, Asal Dardan, Deniz Utlu, Fatma Aydemir, Hengameh Yaghoobifarah, Karosh Taha, Lena Gorelik, Sasha Salzmann, Shida Bazyar, Simone Dede Ayivi und Tayfun Guttstadt
Donnerstag, 2. März 2023
„Immer wieder Hessen: Rassismus tötet
Aus Hanau lernen heißt über den hesslichen Normalzustand zu reden…“
Diskussionsveranstaltung um 18:00 Uhr im Foyer des Neustädter Rathauses,
Mit Sascha Schmidt (Autor der Zeitschrift „Der rechte Rand“) und Doris Liebscher (Landesstelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung in Berlin, angefragt)
Freitag, 10. März 2023
„Das Schweigen der Sterne“
Theaterstück um 19:30 Uhr in der Alten Johanneskirche über dem Café Ellis in Hanau, Johanneskirchplatz 1, 63450 Hanau
„Historisch beginnt die Reise beim Holocaust und einem niedergerissenen jüdischen Schulhaus in Wachenbuchen – landet jedoch immer wieder in der heutigen Zeit. Eine bewegende Szenencollage – Tanz und Schauspiel zum Nachdenken und Mitdiskutieren“ – Junges Theater Wachenbuchen
Preise VVK: 12,- €, Abendkasse 14,- €.
Samstag, 18. März 2023
Abschluss-Veranstaltung um 18:00 Uhr im Foyer des Neustädter Rathauses, Bundesweite Vernetzung und Forderungen der Angehörigen-Initiativen
Führungen durch die Ausstellung
Führungen mit Angehörigen finden jeden Mittwoch um 17:00 Uhr und jeden Sonntag um 15:00 Uhr statt.
Führungen mit Forensic Architecture/Forensis finden am Donnerstag, 2. Februar, um 12:00 Uhr sowie am Samstag, 18. Februar, um 17:00 Uhr statt.
Für Gruppen, Schulklassen und Vereine können Termine für gesonderte Führungen außerhalb der Öffnungszeiten vereinbart werden.
Drei Texte zum Untersuchungsausschuss (UNA)
Text 1:
Chancen verpasst – Aufklärung des UNA Hanau zu den Themen Erstversorgung und weitere Begleitung der Betroffenen und Hinterbliebenen
Am 11. Januar 2023 haben wir als Initiative 19. Februar auf unserer Webseite einen Text zum Umgang mit Betroffenen und Hinterbliebenen veröffentlicht, den wir angehängt in weiten Auszügen dokumentieren. Am 13. Januar 2023 fand eine weitere öffentliche Sitzung des UNA statt, in der zwei beteiligte Polizisten zur Situation in der Sporthalle im Lamboy aussagten, die in der Tatnacht zum „Betroffenen-Informations-Zentrum“ umfunktioniert wurde.
Der erste Polizist berichtete, wie er den Einsatz der „Abteilung Betreuung“ in dieser Nacht in Hanau leitete. Und er räumte ein, dass er in 27 Jahren Dienstzeit nur einmal – im Jahr 2017 – für vier Stunden an einer Fortbildung zum Thema Opferbetreuung teilgenommen hatte.
Der zweite Beamte erläuterte, dass er eigentlich im Bereich Kommunikation bei Großveranstaltungen wie Demonstrationen und Fußballspielen tätig ist und er dann aber am 19. Februar 2020 die Information der Opferfamilien übernommen hatte. Dies als einleitende Ergänzung und ohne Kommentar zur Vorbereitung der hessischen Polizei in Sachen Opferbetreuung bei „Großschadensereignissen“.
Dass es in der Halle mehrere christliche aber keinen einzigen muslimischen Seelsorger gegeben hatte, war in früheren Sitzungen bereits thematisiert worden.
Die Chance, die Aussagen der Überlebenden und Angehörigen des rassistischen Terroranschlags in Hanau am 19. Februar 2020 zu Beginn der öffentlichen Sitzungen des Untersuchungsausschusses Hanau des hessischen Landtages als Orientierungspunkt des politischen Handelns zu nehmen, wurde bisher nicht genutzt. Dabei haben alle in ihren Aussagen auf die gravierenden Mängel der Erst- und Folgeversorgung hingewiesen. Daraus könnten Schritte zum politischen Handeln und zur Verbesserung der Versorgung abgeleitet werden. Die Eindrücke aus dem Untersuchungsausschuss deuten aber eher darauf hin, dass weiterhin die Legende einer „exzellenten Polizeiarbeit“ aufrechterhalten werden soll – vor allem seitens der Landesregierung. Politiker:innen, die die Impulse der Betroffenen ernst nehmen und eine wirkliche Aufarbeitung und schlussendlich Konsequenzen wollen, bleiben in der Minderheit. Einige Schlaglichter aus den Aussagen der Angehörigen in den ersten Tagen des Untersuchungsausschusses und zum weiteren Umgang mit den jeweiligen Fragen:
Die Frage nach dem Ausweis
„Die beiden jungen Polizisten waren vollkommen überfordert, der eine hat mich nach meinem Personalausweis gefragt, der andere meinte er hätte sowas noch nie erlebt. Ich hab dann beide beruhigt und ihnen gesagt sie sollen meine Wunde zuhalten. Ich habe ihnen meinen Ausweis gegeben, habe mich bei Vilis Auto angelehnt und gewartet. Ich habe die Polizei gefragt, warum kein Rettungswagen kommt, einer meinte, wenn geschossen wird kommt in Deutschland erst mal die Polizei.“
Etris Hashemi, Überlebender und Bruder des ermordeten Said Nesar Hashemi,
im Untersuchungsausschuss am 17.12.2021
Etris Hashemi hatte gerade eine lebensgefährliche Schussverletzung erlitten als er mehrfach nach seinem Ausweis gefragt wurde, während er auf Erstversorgung seiner Verletzung warten musste. Ein weiteres Puzzlestück in einem Bild der Tatnacht, das vor allem davon geprägt ist, dass die Opfer des rassistischen Terroranschlags nicht wie Opfer, sondern wie Tatverdächtige behandelt wurden.
Die Frage nach dem Ausweis wiegt besonders schwer, weil Hanau-Kesselstadt und insbesondere der Tatort Arena Bar an dem Etris Hashemi verletzt wurde einer der Orte in Hanau ist, an dem die Dichte rassistischer Polizeikotrollen (sogenanntes „racial profiling“) besonders hoch ist. Viele Jugendliche berichten davon in jeder erdenklichen Situation nach ihrem Ausweis gefragt und durchsucht – und dabei nicht selten entwürdigend behandelt worden zu sein. Das war vor der Tat am 19.02.2020 Alltag – und blieb es auch nach der Tat. Vor allem im kurz darauf beginnenden Lockdown der Corona-Pandemie kam es häufig zu teils gewaltsamen Polizeikontrollen rund um das Kesselstädter Jugendzentrum (JUZ) – erst als die Vorfälle öffentlich gemacht wurden, wurde die Kontrolldichte etwas geringer.
Überlebende allein zur Polizeistation geschickt
„Ein bisschen später hat mir ein Polizist gesagt, dass ich zur Polizeiwache am Freiheitsplatz laufen soll, um dort eine Aussage zu machen. Das sind ungefähr drei Kilometer von Kesselstadt. Zu dieser Zeit war der Täter noch auf der Flucht. Wenn ich mir heute überlege, was das für ein gefährlicher Vorschlag war, würde ich dem Polizisten gerne die Weste vom Leib reißen. Aber in dieser Schocksituation bin ich seiner Anweisung gefolgt. Ich bin dann Umwege durch kleine Gassen gelaufen, doch irgendwann konnte ich nicht mehr weiter. Ich war fertig, konnte mich nicht mehr bewegen, wahrscheinlich aus Angst vor dem Täter. Ich habe einen Freund angerufen, der hat mich abgeholt.“
Piter Minnemann, Überlebender, zum Tatzeitpunkt 19 Jahre alt
Die Überlebenden in Hanau-Kesselstadt wurden in der Tatnacht nicht nur sich selbst überlassen, man schickte sie nach der Tat zur Polizeistation am Freiheitsplatz. Zu einem Zeitpunkt, zu dem noch nicht klar war, dass der Täter tot oder jedenfalls unter Kontrolle war – bis zur Stürmung des Hauses des Täters dauerte es noch bis 3 Uhr nachts. Das sind mehrere Kilometer im Dunkeln bis in die Stadtmitte, kurz nach dem Überleben eines Angriffs, bei dem Freunde direkt neben ihnen gestorben waren.
Dazu der Hanauer Polizeidirektor Jürgen Fehler am 21.11.2022 im UNA: „Ich schließe nicht aus, dass Einsatzkräfte am Tatort zu dem Schluss kommen, dass die Stadt sicher ist. Kräfte haben in der Anfangsphase auch viel zu tun und können nicht all ihren Aufgaben nachkommen. Ich schließe persönliche Befindlichkeiten auch nicht aus, dass der ein oder andere Kollege Herrn M. kennt und dachte: „Wir fahren dich nicht dahin, du kannst mal schön laufen.“ Erneut rechtfertigt der Polizei-Chef ein völlig inakzeptables Verhalten seiner Beamten und demonstriert damit öffentlich, dass hier niemand im Polizei-Apparat etwas lernen oder gar verändern will.
Die Halle im Lamboy: Angehörige wurden in einer weit entfernten Polizeisporthalle gesammelt und über viele Stunden ohne Informationen gelassen
„Wir mussten lange dort warten. Niemand hat mit uns gesprochen. Ich habe immer wieder gefragt, wann kriegen wir Informationen? Zu Ferhat Unvar. Weiter wurden wir vertröstet. Um 6:30 Uhr haben sie die Namen gesagt. Es gibt keine Überlebenden. Dann wurden alle Namen gesagt. Der letzte war der von meinem Sohn.“
Serpil Unvar,
Mutter des ermordeten Ferhat Unvar, im Untersuchungsausschuss am 21.01.2022
In der Tatnacht wurde im Hanauer Stadtteil Lamboy, also in deutlicher Entfernung von beiden Tatorten, in einer Polizeisporthalle eine Art Sammelstelle für Angehörige eingerichtet, die nach Informationen suchten. Bis etwa 6:30 Uhr morgens gab es jedoch keinerlei Informationen. In der Halle waren einzelne Seelsorger (evangelische und katholische Pfarrer:innen) sowie Polizeikräfte. Es gab keinerlei psychologische Unterstützung. Um 6:30 Uhr wurde in der Halle eine Liste verlesen, auf der die Namen der in der Nacht Ermordeten standen. Danach wurden Angehörige auf eine an der Wand notierte Telefonnummer verwiesen, bei der sie am nächsten Morgen anrufen könnten, um zu erfahren, wo die Leichen ihrer Angehörigen sind. Viele sagen im Nachhinein, sie hätten das Gefühl gehabt, sie seien vor allem als Störfaktoren behandelt worden, die irgendwo „geparkt“ werden sollten. (…) Die zentrale Frage nach dem Konzept, welches dem Umgang mit den Opfern in der Nacht nach dem rassistischen Terroranschlag (aber auch in der Zeit danach) zugrunde lag, ist bislang im Untersuchungsausschuss durch die Verantwortlichen nicht beantwortet worden. Oder wie Çetin Gültekin es formulierte:
„Gab es bei der Polizei ein Konzept, wie mit Angehörigen von Opfern umzugehen wäre? Folgte das Vorgehen in der Halle und der Umgang dort mit dem kalten Verlesen der Liste der Toten einem Notfallplan? Wenn ja, wenn das ein Plan oder Konzept war, dann ist dies jedenfalls gründlich schief gegangen. Statt Leid zu lindern und zu beruhigen und wie versprochen zu informieren, wurden Spannungen und Stress gesteigert. Oder gab es gar kein Konzept und alles wurde ganz hastig improvisiert?“
Çetin Gültekin, Bruder des ermordeten Gökhan Gültekin,
im Untersuchungsausschuss am 21.01.2022
Die Tage danach:
Gravierende Mängel in der Informationsweitergabe an Opferfamilien und Überlebende
„Warum hat uns niemand geholfen? Warum wurden wir Tage lang nicht informiert? Ich hatte gehofft, dass jemand kommt und nach uns sieht. Aber niemand ist gekommen.“
Vaska Zlateva, Cousine von Kaloyan Velkov,
im Untersuchungsausschuss am 03.12.2021
In den Tagen danach setzte sich diese Nicht-Information weiter fort. Angehörige suchten in der Tatnacht stundenlang selbst die Krankenhäuser ab, da sie von der Polizei keine Informationen bekamen. Auf der Telefonnummer, die ihnen am Morgen des 20.02.2020 in der Polizeisporthalle gegeben wurde, waren keine Informationen zu erhalten. Um nur einige der vielen offenen Fragen zu nennen:
Warum wurde die Familie von Kaloyan Velkov erst sechs Tage später informiert?
Warum mussten die Eltern von Vili Viorel Păun selbst zur Polizei gehen und wurden dann, nachdem sie erfahren hatten, dass ihr Sohn ermordet wurde, einfach nach Hause geschickt und nicht psychologisch versorgt?
Warum musste Saida Hashemi tagelang, während ihre Eltern bei ihrem schwer verletzen Bruder im Krankenhaus waren, nach der Leiche ihres Bruders suchen und erhielt immer wieder keine Antwort?
Die Aufklärung hinsichtlich der mangelnden Informationsweitergabe und Erstversorgung wurde bislang seitens der beteiligten Behörden nicht vorangetrieben. Niemand erhielt Erklärungen oder gar eine Entschuldigung.
Die Obduktionen
„Wir wurden nicht wie trauernde Eltern behandelt. Es ist furchtbar schmerzhaft, dass wir nicht die Chance hatten, ihn noch einmal länger zu sehen und uns von ihm zu verabschieden, so wie es menschenwürdig ist.“
Emiş Gürbüz,
Mutter des ermordeten Sedat Gürbüz, im Untersuchungsausschuss am 17.12.2021
Dass die Hanauer Staatsanwältin Türmer wegen vermeintlicher Gefahr im Verzug, die Leichname beschlagnahmen ließ und am 20. Februar gegen 8 Uhr die Obduktion anordnete, war ein Fehler. Frau Türmer war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zuständig für diese Entscheidung, weil der Generalbundesanwalt bereits in frühen Morgenstunden des 20. Februar die Ermittlungen übernommen hatte.
Frau Türmer gab bei ihrer Zeugenaussage am 21.11.22 im UNA Hanau an, dass sie seit ihrer Anfangszeit als Staatsanwältin in den 80er Jahren nicht mehr mit Kapitalverbrechen zu tun hatte. Deswegen berief sie sich darauf, nicht gewusst zu haben, dass das Anhörungsrecht der Angehörigen eine Sollvorschrift ist. Dass sie als de facto Behördenleitung sich nicht auf dieses Nichtwissen berufen kann, steht außer Frage.
Die nicht vorhandene Kommunikation zwischen den Ermittlungsbehörden und den Kontaktbeamten führten auch dazu, dass die Angehörigen die Toten nicht vor der Obduktion sehen konnten. (…)
Vater des Täters bedroht bis heute Angehörigenfamilie – im Umgang damit setzt sich die Kette des Versagens fort
Seit Oktober 2022 bedroht der Vater des Täters die in seiner Nachbarschaft lebende Familie Unvar. Nachdem er begann vor dem Haus aufzutauchen und die Familie zu beobachten wurde ein Näherungsverbot erwirkt, welches er seitdem nahezu täglich bricht. Seitdem steht Polizei vor dem Haus, um die Familie zu schützen und das Näherungsverbot durchzusetzen.
Im Zuge dieser Maßnahme kam es zu mehreren Aussagen durch dort eingesetzte Beamte, gipfelnd in der „aus persönlichem Interesse“ gestellten Frage, warum die Familie des Opfers nicht einfach den Stadtteil verlasse und wegziehe.
Am 28.12.2022 wurde Herr R. schlussendlich für eine Nacht in Gewahrsam genommen. Nur wenige Tage nach dem tödlichen rassistischen Anschlag in Paris, bei dem drei kurdische Menschen ermordet wurden, konnte die Familie nur feststellen, dass die eingesetzten Beamten rannten – und kurz darauf der Schutz vor ihrem Haus abgezogen wurde. Keinerlei Information und keine Erreichbarkeit der Zuständigen bis zum nächsten Tag. (…)
Die mangelnde Versorgung der Opfer
„Ich führe so viele Kämpfe: ich muss für die Aufklärung kämpfen von Vili’s Tod. Für die Gesundheit meiner Frau. Und dann muss ich mich auch noch um so viel Bürokratie kümmern. Erst haben wir zumindest noch Krankengeld bekommen. Seit August kriegen meine Frau und ich auch kein Krankengeld mehr. Wir können beide nicht mehr arbeiten. Bis heute ist nicht klar, wer jetzt für uns zuständig ist. Seit August bekommt meine Frau, die Mutter von Vili, keinerlei Geld mehr.“
Niculescu Păun, in einem Kommentar zum Abschlussbericht des Bundesopferbeauftragten Edgar Franke
Nach dem rassistischen Terror-Anschlag wurde der Umgang mit den Betroffenen und die danach folgende Verarmung als weitere Gewalt empfunden. Viele konnten – zum Teil bis heute – nicht mehr ihrer gewohnten Arbeit nachgehen. Die zunächst gezahlten Krankengelder waren weit niedriger als die zuvor vorhandenen Löhne.
Die Familien waren zugleich mit steigenden Kosten konfrontiert – nicht zuletzt, weil einige umziehen mussten, weg von den Tatorten und der ständigen Konfrontation mit dem Vater des Täters, der in Kesselstadt die Betroffenen belästigt. Nach Auslaufen der Krankengelder kam es teilweise zu Versorgungslücken. Um nur einige der Probleme zu nennen.
Zudem gab es ständige Zuständigkeitswechsel (in den drei Jahren haben wir zwei Bundesopferbeauftragte, zwei Landesopferbeauftragte, mehrere städtische Opferbeauftragte und immer wieder Wechsel auch in den Beratungsstrukturen erlebt). Lücken in der Beratung und Betreuung gibt es bis zum heutigen Tag – nicht nur im anfänglichen Chaos. (…)
Schlussendlich:
Ohne Antworten auf die vielen offenen Fragen, ohne Aufklärung und ohne Konsequenzen gibt es keine Gerechtigkeit
Viele der Betroffenen sagen: solange unsere offenen Fragen nicht beantwortet sind und so lange es keine politischen Konsequenzen gibt, werden sie keine Ruhe finden. Eine Verarbeitung des Geschehenen hängt für Betroffene maßgeblich davon ab, ob sie einordnen können, was geschehen ist, und ob sie erkennen können, dass aus Fehlern gelernt wird und Konsequenzen gezogen werden.
In den ersten vier Tage des Untersuchungsausschusses haben Angehörige formuliert, was aus ihrer Sicht die drängendsten aufzuklärenden Fragen sind, an welchen Stellen versagt wurde und wo Konsequenzen zu ziehen wären. Es war das erste Mal, dass ein Untersuchungsausschuss mit den Fragen der Betroffenen begann. Insofern muss der parlamentarische Untersuchungsausschuss und der Umgang mit Betroffenen sich schlussendlich auch daran messen lassen, wie viele ihrer Fragen hier Antworten finden.
Der vollständige Text findet sich hier: https://19feb-hanau.org/2023/01/11/chancen-verpasst/
Text 2:
Rassistischer Anschlag in Hanau – Verschlossener Notausgang ohne Konsequenzen?!
Die Sitzung des Untersuchungsausschusses im Hessischen Landtag zu Hanau am 14.10.2022 tagte – von kurzen Pausen abgesehen – bereits fast 12 Stunden, als es am späten Abend zu zwei bemerkenswerten Szenen kam. Zwei Parlamentarier spitzten die Fragen und Widersprüche zur Einstellung des Ermittlungsverfahrens in Sachen verschlossenem Notausgang zu.
Der verantwortliche Staatsanwalt aus Hanau, Martin Links, hatte gerade erst seinen fast einstündigen Vortrag beendet, in dem er einmal mehr zu rechtfertigen versuchte, warum er das Verfahren eingestellt hatte. Davon unbeeindruckt stellte ein Abgeordneter folgende Frage: „Wenn einer der jungen Männer in Richtung des verschlossenen Notausgangs geflohen und vor der verschlossenen Tür zu Tode gekommen wäre, hätte das Ihre Beurteilung geändert?“ Staatsanwalt Links sagt eine Weile nichts, erkennbar verunsichert antwortete er dann fast leise: „Wahrscheinlich, ja.“
Im Schlussteil der Befragung kam ein anderer Abgeordneter nochmals auf diesen Widerspruch zurück. Sinngemäß sagte er, dass es doch zynisch sei, wenn das Verfahren nur deswegen eingestellt würde, weil niemand direkt vor der Notausgangstür ermordet wurde. Damit würden die Opfer ja quasi nachträglich selbst dafür verantwortlich gemacht, dass sie wegen des verschlossenen Notausgangs in den hinteren Teil der Bar fliehen mussten. Und ob ihm – dem Staatsanwalt – nicht klar sei, dass dies den Angehörigen der Opfer nicht mehr vermittelbar sei. Martin Links musste erneut schlucken, um dann aber lapidar zu entgegnen, dass er sich an höchstrichterliche Urteile gebunden sehe.
Die Gründe zur Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft
Der Staatsanwalt aus Hanau hatte sich in ihrer Entscheidung zur Einstellung des Verfahrens im August 2021 im Wesentlichen auf drei Ermittlungsergebnisse bezogen. Zum ersten wäre nicht klar gewesen, ob der Notausgang in der Nacht wirklich verschlossen war. Oder im Beamtendeutsch: „Die Verschlussverhältnisse des Notausgangs in der Nacht vom 19.02.2020 (konnten) nicht mit hinreichender Sicherheit aufgeklärt werden.“ Zum zweiten hätte für die Opfer angeblich die Zeit nicht ausgereicht, den Notausgang zu erreichen. Dazu aus der Einstellungsverfügung: „Es kann vor diesem Hintergrund insgesamt nicht mit der erforderlichen Sicherheit davon ausgegangen werden, dass es den später Getöteten S. H. und H. K. in diesem kurzen Zeitraum gelungen wäre, die Notausgangstür zu erreichen, diese zu öffnen und die Arena-Bar durch die Notausgangstür zu verlassen.“ Als dritte zentrale Einstellungsbegründung wurde angeführt, dass „aufgrund des natürlichen Fluchtinstinkts, sich von einer Gefahrenquelle wegzubewegen“ davon auszugehen sei, dass die Betroffenen in die hintere Ecke der Bar geflüchtet wären. Insbesondere dieses letzte Argument machte Staatsanwalt Links im Untersuchungsausschuss am 14.10.2022 nochmals stark, indem er minutenlang ein Standbild eines nachgestellten Videofilms präsentierte.
Dieses Foto sollte demonstrieren, wie aus der Perspektive der Betroffenen der Eingangsbereich wahrgenommen wurde und dass es kaum vorstellbar sei, dass jemand dem dort hereingekommenen Täter schräg entgegengelaufen wäre, um zum Notausgang zu gelangen.
Die Demontage der Einstellungsgründe durch Forensic Architecture und Zeug:innen im Untersuchungsausschuss
Anfang September 2022 haben zwei Polizei-Zeugen, die mit der Tatortaufnahme befasst waren, im Untersuchungsausschuss bekräftigt, dass der Notausgang in der Tatnacht verschlossen war. Etris Hashemi sowie Piter Minnemann, Überlebende aus der Arena-Bar, haben jeweils nochmals bestätigt, dass sie davon ausgehen mussten, dass die Tür verschlossen war. Weitere Personen aus Kesselstadt haben bezeugt, dass die Tür in aller Regel nicht zu öffnen war. Neue Belege aus der Videoauswertung der Tatnacht machen deutlich, dass die Tür verschlossen gewesen sein musste. Im Ausschuss waren sich schlussendlich alle einig, dass es keine Frage mehr sei und selbst Staatsanwalt Links relativierte seinen Passus in der Einstellungsverfügung:
der Notausgang war in der Tatnacht zu. Damit war das erste Argument für die Einstellung des Verfahrens hinfällig. Zum zweiten Punkt, also ob der Notausgang objektiv erreichbar gewesen wäre, hatte Forensic Architecture bereits im Dezember 2021 eine akribisch recherchierte Videorekonstruktion veröffentlicht. Sie wurde von Etris Hashemi bei seiner Aussage am 20.12.2021 im Untersuchungsausschuss eingebracht.
Am 14.10.2022 war dann mit Robert Trafford schließlich einer der Forensiker im Ausschuss als Sachverständiger geladen, um die Untersuchung zum Notausgang den Parlamentarier:innen vorzustellen. Erwartungsgemäß haben einige Parteienvertreter versucht, mit wüsten Szenarien – z.B. „der Barkeeper hätte über den Tresen springen und sich damit in den Weg stellen können“ – die Ablaufrekonstruktion in Frage zu stellen. Doch an der Tatsache, dass die Betroffenen neun Sekunden hatten, um den Notausgang zu erreichen und dass sie dies zeitlich hätten schaffen können, war nicht zu rütteln. Insofern war auch das zweite Argument der Staatsanwaltschaft zur Einstellung widerlegt. Als dritter Punkt blieb insofern nur noch der subjektive Faktor, den Staatsanwalt Links – wie einleitend dargestellt – dann am 14. Oktober auch entsprechend stark gemacht hatte.
Doch direkt vor ihm war als Sachverständige eine Professorin für Psychologie und Führungslehre, Dr. Birgitta Sticher, im Ausschuss aufgetreten. Sie lehrt und forscht zu menschlichem Verhalten in Gefahren- und Bedrohungslagen. Entgegen der allgemein verbreiteten Annahme legte sie dar, dass Menschen in Extremsituation nicht einfach panisch reagieren und von Gefahren weg flüchten, sondern dass blitzschnelle rationale und soziale Abwägungen im Gehirn ablaufen, die scheinbar überraschende Reaktionen ermöglichen. Im Hinblick auf die konkreten Fragen in der Arena-Bar wurde deutlich, dass es durchaus denkbar gewesen wäre, dass die Betroffenen in der vorliegenden Situation gemeinsam zum Notausgang gerannt wären, wenn sie sich dadurch hätten Schutz versprechen können. Und die Sachverständige betonte nochmal aus ihrer Forschungspraxis, wie wichtig es ist, den Überlebenden zuzuhören und ihnen zu glauben.
Noch bevor Staatsanwalt Links den Saal betreten hatte, stellte diese Professorin also sein zentrales, drittes Argument komplett in Frage. Vor diesem Hintergrund musste Links sich dann auch fragen lassen, warum er nicht selbst entsprechende Gutachten und Untersuchungen in Auftrag gegeben habe, die seine Vermutungen zum Fluchtverhalten überprüfen hätten können. Darauf wusste er keine Antwort und seine anfangs zur Schau getragene Selbstsicherheit war zum Ende der Sitzung sichtlich erschüttert.
Keine juristischen Folgen, aber politisch immer unglaubwürdiger
Um es nochmal zusammenfassend zu formulieren: alle Argumente der Staatsanwaltschaft für eine Einstellung des Verfahrens bezüglich des verschlossenen Notausgangs wurden in den Sitzungen des Untersuchungsausschusses widerlegt. Doch mit Selbstkritik oder gar einer Wiederaufnahme des Verfahrens kann dennoch nicht gerechnet werden. Zur Erinnerung: die Staatsanwaltschaft Hanau hatte niemals von sich aus ermittelt, sondern damit erst begonnen, als ihr mit der Anzeige von Opferfamilien keine Alternative mehr blieb.
Der verschlossene Notausgang von Hanau wird also absehbar ohne juristische Konsequenzen bleiben. Es sei denn, es gebe noch irgendwann beweiskräftige Informationen, die die Aussagen von Überlebenden und weiteren Zeugen belegen können, dass es Absprachen zwischen Barbetreiber und der Polizei gab. Bislang konnte dieser Vorwurf als Falschbehauptung abgeblockt werden.
In der Gesamtschau bestimmen die Aussagen der Angehörigen und Überlebenden nachhaltig das Bild in der Öffentlichkeit. Ob zum unwürdigen Umgang mit den Überlebenden und Hinterbliebenen, ob zum Organisationsversagen bezüglich des unterbesetzten und nicht funktionierenden Notrufs oder ob zum verschlossenen Notausgang: Kaum noch jemand folgt den immer unglaubwürdiger gewordenen Versionen der Polizei und der Staatsanwaltschaft. Bis heute bleibt es so: Kaum jemand zitiert die abgeschlossenen Ermittlungsverfahren. Vielmehr wird nahezu überall, wo „Hanau“ Thema ist, von den offenen Fragen gesprochen, auf die die Angehörigen und Überlebenden nach wie vor Antworten verlangen, die Ihnen die Behörden und Polizei bislang schuldig bleiben. Nach den erwähnten Sitzungen im Untersuchungsausschuss gilt dies mehr denn je für den verschlossenen Notausgang.
Text 3:
Das Notruf-Desaster von Hanau
Von einem Organisationsversagen der Polizei, das die Verantwortlichen systematisch vertuschen wollten
Als Niculescu Păun am 14. Mai 2020, knapp drei Monate nach dem rassistischen Terroranschlag in Hanau, im Hessischen Landtag das Handy seines ermordeten Sohnes in die Kameras der Journalist:innen hält, konnte noch niemand ahnen, dass sich daraus ein Polizeiskandal entwickeln würde.
Nur dank hartnäckiger Recherchen der Familie Păun, von Journalist:innen, Rechtsanwalt:innen und Unterstützer:innen sowie durch entsprechende Befragungen im parlamentarischen Untersuchungsausschuss in Wiesbaden wissen wir heute, was bezüglich der personellen Unterbesetzung sowie der technischen Unteraustattung von der hessischen Polizei und dem Innenministerium mit allen Mitteln verheimlicht und vertuscht werden sollte:
- Der Notruf war – von den ersten 16 Sekunden abgesehen – nur mit einer Person besetzt, nachdem vier weitere Beamte zum ersten Tatort fuhren. Eine weitere Polizeibeamtin, die auf der gleichen Etage in der Hanauer Station Dienst hatte und am zweiten Telefon hätte eingesetzt werden können, wurde – nach eigenen Angaben – schlicht „vergessen“!
- Es gab beim Hanauer Notruf keine Überlauf- bzw. keine Weiterleitungsfunktion für nicht angenommene Anrufe. Das allein ist schwer zu glauben, doch es kommt noch schlimmer. Niemand bei der Polizei – weder die beteiligte Polizeibeamtin, die am Tatabend am Telefon saß, noch der Hanauer Polizeichef und auch nicht der hessische Polizeipräsident – wollen dies zum Zeitpunkt des Anschlags gewusst haben! Vielmehr sind sie alle davon ausgegangen, dass – wenn das zweite Telefon klingelt und nicht abgenommen werden konnte – dieser Notruf weitergeleitet wird. Das war aber nicht der Fall. Alle nicht angenommenen Notrufe gingen ins Leere.
- Niemand kann erklären, warum es innerhalb der ersten Stunde nach dem Anschlag nur wenige Notrufe gab. Die Aufnahmefunktionen waren offensichtlich gestört und möglicherweise geht das technische Versagen noch weit über das hinaus, was die Behörden mittlerweile zugeben mussten.
- Offensichtlich gab es nach dem Anschlag am 19. Februar 2020 keinerlei kritische Aufarbeitung zum Notrufversagen innerhalb der zuständigen Polizeibehörden und mit den beteiligten Polizist:innen in Hanau.
- Schließlich wurde zusätzlich im UNA bekannt, dass das Landespolizeipräsidium versucht hatte, auf das Polizei-interne Ermittlungsverfahren zum Notrufversagen Einfluss zu nehmen.
Zusammenfassend:
Über fast 20 Jahre haben die Verantwortlichen bei der Polizei mit der Bevölkerung des Hanauer Altkreises, also ca. 200.000 Menschen, beim Notruf auf Risiko gespielt. Bis es dann am 19.02.2020 passierte: mehrere Zeug:innen des Anschlags konnten die Polizei über die 110 wegen der Unterbesetzung und Unterausstattung nicht erreichen. Vili Viorel Păun gehörte zu den Betroffenen, die mehrfach versucht haben, die Polizei anzurufen. Er hätte die Chance gehabt, sein Leben – und mit Glück auch das von anderen Opfern – zu retten, wenn er durchgekommen wäre. Doch Vili verlor sein Leben, ohne dass diesem unglaublichen Organisationsversagen der Polizei Konsequenzen folgten. Bis heute – fast drei Jahre danach – gibt es nicht einmal eine Entschuldigung der Verantwortlichen.
Eine Chronologie zum Notruf-Desaster in Hanau und den systematischen Vertuschungsversuchen findet sich demnächst auf unserer Webseite.
Neu bei der Initiative 19. Februar Hanau
Seit kurzem gibt es eine Webseite, über die T-Shirts, Kapuzenpullis und Turnbeutel bestellt werden können:
https://www.saytheirnames-hanau.org
Erinnern heißt verändern
Es darf kein Vergessen geben. Ein einfacher Satz. Es ist ein Satz, der uns verbindet. Hinter seiner Einfachheit verbergen sich die Geschichten und Erfahrungen Unzähliger. Die Erinnerung an das Geschehene, an das Vergessene, an das stets Verschwiegene, an die Ursachen und die Folgen, an das Davor und Danach zu nähren, zu pflegen, zu bewahren. Diese Erinnerung muss zur Erinnerung aller werden. Denn sie mahnen uns, sie lehren uns, sie leiten uns. Dieser einfache Satz verpflichtet uns: Es darf kein Vergessen geben.
Ein Teil dieser Erinnerungspraxis ist die Sichtbarmachung der Namen und Geschichten der Opfer, der Angehörigen und der Überlebenden. Erinnern und sichtbar halten fordert zur ständigen Auseinandersetzung auf.