#saytheirnames — Newsletter der Initiative 19. Februar Hanau
Nr. 7 — Mai 2022
Liebe Freundinnen und Freunde,
seit dem 3. Dezember 2021, der ersten öffentlichen Sitzung des Hessischen Untersuchungsausschusses zu Hanau, sind nun nahezu sechs Monate vergangen. Elfmal hat der UNA 20/2 getagt und wir ziehen in diesem Newsletter eine erste kritische Zwischenbilanz.
Umso bedeutender ist der zweite Schwerpunkt dieses Newsletter: wir wollen alle Leser:innen einladen, eine neue Ausstellung der unabhängigen Ermittlungsagentur Forensic Architecture zu besuchen. „Three Doors“ lautet der Titel und die Ausstellung wird ab 2. Juni bis 11. September 2022 im Kunstverein am Römer in Frankfurt gezeigt. In drei Räumen wird u.a. die Tatnacht des 19. und 20. Februar 2020 in einer detaillierten Chronologie nachgezeichnet, zudem werden – neben dem bereits bekannten Gutachten zum verschlossenen Notausgang am zweiten Tatort – weitere Video-Rekonstruktionen präsentiert.
Abschließend findet sich in dieser Ausgabe ein kurzer Rückblick auf den 19.02.2022, auf die Gedenkaktionen zum zweiten Jahrestag des rassistischen Mordanschlags in Hanau.
Den vollständigen Newsletter findet ihr hier zum Download, Ausdrucken und Weiterverbreiten.
Sechs Monate Untersuchungsausschuss – eine kritische Zwischenbilanz
Gut war und wichtig bleibt, dass zum Anfang des UNA 20/2 insgesamt elf Angehörige und Überlebende in vier Sitzungen ihr Zeugnis ablegen konnten. Sie haben nochmal alle ihre schrecklichen Erfahrungen – insbesondere in der Tatnacht und den Tagen danach – vorgetragen und zudem ein erstes, selbst in Auftrag gegebenes Gutachten von Forensic Architecture zum verschlossenen Notausgang vorgestellt. Informationen, die eigentlich die Polizei und Behörden hätten ermitteln müssen, sowie die gesammelten offenen Fragen wurden also von den Angehörigen kompakt als Auftakt eingebracht.
Umso enttäuschender, was danach passierte. Seit Ende Januar 2022, also nach den Aussagen der Angehörigen, wurde es schnell sehr zäh: mehrfach sind Sitzungen ausgefallen und zum Teil waren Zeug:innen geladen, die nicht viel aussagen konnten. Es stellt sich die Frage, ob hier von einigen Abgeordneten – insbesondere der CDU – bewusst verzögert wurde, um mit der Verlangsamung zu versuchen, den auch medialen Schwung der ersten Wochen abzubremsen. Zumal es immer wieder der CDU-Abgeordnete Müller ist, der parteipolitisches Gezänk anfängt und damit vom Auftrag zur Aufklärung ablenkt.
In der Ablaufstruktur des UNA ist grundsätzlich unverständlich, warum geladene Gutachter:innen keinen Zugang zu den Akten bekommen haben und entsprechend wenig aussagen konnten. Verstörend war insbesondere der Ablauf am 18. März 2022: An diesem Tag war der Jurist, Kriminologe und Polizeiwissenschaftler Prof. Dr. Thomas Feltes von der Ruhr-Universität Bochum als Gutachter im Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags geladen. Er hatte im Vorfeld dieses Termins eine 15-seitige kritische Stellungnahme verfasst, die er vor seiner Befragung einleitend vortragen wollte. Dies wurde ihm allerdings durch den Vorsitzenden des Untersuchungsausschusses untersagt. Wir haben nachträglich seine sehr lesenswerte Stellungnahme im Wortlaut veröffentlicht (unten auch der Veranstaltungshinweis für den 3. Juli in Hanau sowie der Link zu seiner Stellungnahme). Es passt, dass Thomas Feltes in seinem Text die Grenzen eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses thematisiert und fragt, ob nicht andere Formen und Zusammensetzungen angesagt wären, um dem Interesse nach unabhängiger Aufklärung nachzukommen.
Problematisch erscheint zudem: Der komplette Ausschluss der Öffentlichkeit bei Allem, was mit dem Vater des Mörders zu tun hat und was mit dessen Persönlichkeitsrechten begründet wird. Schließlich: die für die Obduktionen verantwortliche Staatsanwältin hat – obwohl längst im Ruhestand – mit Hinweis auf ein noch nicht gänzlich abgeschlossenes Disziplinarverfahren alle Aussagen dazu abgelehnt. Sie wird evtl. zu einem späteren Zeitpunkt nochmal geladen.
Vorläufige Zwischenbilanz: Bislang bleibt der Ausschuss weit hinter den Erwartungen der Betroffenen und Unterstützer:innen zurück. Etwas Hoffnung bleibt, dass mit den Ladungen von verantwortlichen Polizist:innen und Politiker:innen in den kommenden Wochen und Monaten bezüglich der Waffenerlaubnisse des Täters, des Notrufversagens, des verschlossenen Notausgangs sowie zu den Abläufen in der Nacht am Täterhaus doch noch einige weitere Puzzle-Steine zum Versagen der Behörden öffentlich werden.
Die nächsten öffentlichen Sitzungstermine des UNA 20/2: 13. Juni, 4. Juli, 18. Juli 2022.
Kontinuierliche Mahnwachen nahe dem Landtag
An allen elf öffentlichen UNA-Terminen im Wiesbadener Landtag gab es gleichzeitige Mahnwachen mit Kundgebungen, zunächst direkt am Eingang des Landtages, dann auf dem nahe gelegenen Dernschen Gelände. In einer Rhein-Main weiten Zusammenarbeit haben jeweils unterschiedliche Gruppen den Infostand sowie ein Kundgebungsprogramm vorbereitet. Wir danken dem AKU Wiesbaden und der Partei Die Linke Wiesbaden für die beständige logistische Hilfe sowie der Seebrücke Frankfurt, der Interventionistischen Linken Frankfurt, der Antifa Basisgruppe, dem Gewerkschaftsbündnis aus DGB-Jugend, IG Metall, IJV, DiDF-Jugend, Community4all aus Darmstadt und dem Aktionsbündnis gegen Abschiebungen Rhein-Main, Offenbach Come-Together und Kein Schlussstrich Kassel für die Organisierung der Mahnwachen. Es gab sehr kalte Tage mit entsprechend wenig öffentlichem Interesse, es gab aber auch sonnige Tage mit lebendigen Kundgebungen und anschließender medialer Berichterstattung. Jedenfalls soll auch in den kommenden Monaten zu allen öffentlichen Terminen des UNA 20/2 die Mahnwache als Anlaufstelle für Angehörige und Interessierte aufgebaut werden und es werden weiterhin Gruppen gesucht, die sich an der Vorbereitung und Durchführung beteiligen.
Unterstützung über Social Media
Eine weitere Möglichkeit, die kritische Öffentlichkeitsarbeit zum Untersuchungsausschuss zu unterstützen: über soziale Medien an den Sitzungstagen immer wieder an die offenen Fragen erinnern. Wenn möglichst Viele immer wieder konkrete Fragen posten und dabei die Abgeordneten im Untersuchungsausschuss direkt taggen, kann das eine gute Erinnerung sein, welches die offenen Fragen sind, die wirklich aufgeklärt werden müssen. Wir werden uns bemühen, für die kommenden Sitzungen an den Tagen zuvor jeweils konkrete kritische Fragen vorzubereiten. Es wäre großartig, wenn Ihr uns bei der Verbreitung unterstützen könntet.
Ausstellung im Frankfurter Kunstverein mit drei Räumen zu Hanau:
Three Doors – Forensic Architecture/Forensis, Initiative 19. Februar Hanau, Initiative in Gedenken an Oury Jalloh
03.06.2022 — 11.09.2022
Eröffnung am Donnerstag, den 03. Juni 2022, um 19 Uhr
„Die Ausstellung Three Doors – Forensic Architecture/Forensis, Initiative 19. Februar Hanau, Initiative in Gedenken an Oury Jalloh entsteht als Zusammenschluss unterschiedlicher Akteur*innen: das Künstler*innen Kollektiv Forensic Architecture und deren Schwesteragentur Forensis Berlin, die Initiative 19. Februar Hanau, die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh, Journalisten und die Kulturinstitution Frankfurter Kunstverein. Sie arbeiten als Koalition zivilgesellschaftlicher Kräfte, aus Menschen und Expert*innen in den jeweiligen Bereichen, um systemischen Rassismus und Behördenversagen sichtbar zu machen.
Die visuellen Untersuchungen zum rassistischen Terroranschlag vom 19. Februar 2020 in Hanau, die Forensic Architecture/Forensis in Zusammenarbeit mit der Initiative 19. Februar Hanau erstellt hat, bilden den Schwerpunkt der Schau. Darüber hinaus wird eine neue Plausibilitätsstudie zum Fall Oury Jalloh, der 2005 in einer Polizeizelle in Dessau verbrannte, veröffentlicht.
In der Ausstellung Three Doors werden drei neue Arbeiten von Forensic Architecture/ Forensis präsentiert, welche rassistisch motivierte Vorfälle in Deutschland untersuchen.
In jedem der drei Fälle wird eine Tür zu einem Sinnbild für die anhaltende und alarmierende Verwicklung staatlicher Behörden in rassistische Gewalt.
Die forensischen Untersuchungen des rassistischen Terroranschlags vom 19. Februar 2020 in Hanau, bei dem neun Menschen ermordet wurden, werden zur Geschichte zweier Türen: des verschlossenen Notausgangs der Arena Bar in Hanau-Kesselstadt, einem der Anschlagsorte, und der Eingangstür des Hauses des Täters, zu deren polizeilicher Überwachung in der Tatnacht viele kritische Fragen offen sind. In der Nacht starben Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Kaloyan Velkov, Vili-Viorel Păun und Fatih Saraçoğlu.
Eine weitere Untersuchung befasst sich mit einer dritten Tür in der Polizeizelle, in der Oury Jalloh, ein junger Asylsuchender aus Sierra Leone, 2005 in Dessau verbrannte. Die Fallstudie prüft die seit langem bestehende Annahme von Ourys Freunden und seiner Familie, dass sein Tod nicht selbstverschuldet war, sondern dass es sich um eine Tötung in Polizeigewahrsam handelt.
Jede Tür öffnet eine neue Perspektive auf strukturellen Rassismus in deutschen Behörden, einschließlich fehlender Konsequenzen für Polizeiverfehlungen, die die Ausübung rassistischer Gewalt ermöglicht haben, sowie Ermittlungen, die den Rechten der Opfer, Überlebenden und ihren Familien nicht gerecht wurden.
Diese Phänomene werden derzeit nicht nur durch die Geschehnisse in Hanau und Dessau, sondern auch durch die Halle-Anschläge, den Fall Walter Lübcke und den sogenannten NSU 2.0 sichtbar und sind ein bundesweites Problem.
Vier weitere Arbeiten bieten Kontext zur laufenden Arbeit der „Gegenforensik“ von Forensic Architecture. Die ausgesuchten Untersuchungen erforschen rassistisch motivierte Fälle in Europa und in den USA. Sie ermitteln und werfen kritische Fragen zu nationalem und internationalem systemischem Rassismus sowie Menschenrechtsverletzungen auf.
Auf Einladung des Frankfurter Kunstvereins wurden die Journalisten Dietrich Brants und Jan Tussing vom SWR2 eingeladen, eine mehrteilige Dokuserie zu produzieren. „Die Lücke von Hanau“ arbeitet mit Dokumenten in Text und Ton, die öffentlich zugänglich, also bereits veröffentlicht und für alle frei verfügbar sind, von Medienberichten bis hin zu Pressemitteilungen einer Staatsanwaltschaft. Die Doku-Serie nutzt Ermittlungsergebnisse, die Medien wiedergeben dürfen, Aussagen von Überlebenden und Angehörigen, Nachbar*innen, Verwandten, Jugendfreund*innen, Kolleg*innen des Täters und von Polizeibeamt*innen und Behördenvertreter*innen, die von Relevanz sind, um die Lücke von Hanau zu beschreiben.
In einem eigens der Initiative 19. Februar Hanau gewidmeten Raum dokumentieren zehn neu produzierte Videos die Aussagen der Angehörigen und Überlebenden vor dem Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtages. Die Familien, Überlebenden und Unterstützer*innen sehen diese Dokumentation als einen weiteren Beitrag für ihren Kampf um Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung und Konsequenzen.“
19. Februar 2022 – Zweiter Jahrestag des Anschlags
Der Tag begann mit einer offiziellen Gedenkaktion auf dem Hauptfriedhof, mit Reden von Oberbürgermeister Kaminsky, Ministerpräsident Bouffier und Bundesinnenministerin Faeser. Danach die Reden der Angehörigen, die bereits vorab ihre Kritik geäußert hatten: „Wir werden am Samstag nicht mit allen, die wollen, gemeinsam auf dem Hanauer Friedhof sein können. Viele, die sonst an jedem 19. an unserer Seite sind, bleiben durch die Auflagen des Landes Hessen ausgeschlossen. Wer eingeladen wird und wer nicht, das haben wir, die Familienangehörigen, nicht entscheiden können.“
Am Nachmittag folgte dann die Demonstration, die das lokale Jugendbündnis organisiert hatte und an der sich über 3.000 Menschen beteiligten. Zur Auftaktkundgebung um 16.00 Uhr bot der Hanauer Marktplatz bereits ein beeindruckendes Bild: Hunderte von Plakaten mit den Gesichtern der Ermordeten bildete eine regelrechte Wand gegen das Vergessen.
Zum Tatzeitpunkt, am späteren Abend zwischen 21.45 Uhr und 22.45 Uhr, versammelten sich schließlich wieder Hunderte an den beiden Tatorten, um der Ermordeten zu gedenken.
In über 100 Städten gab es zum 2. Jahrestag gleichzeitige Gedenk- und Solidaritätsaktionen. Am Abend schrieben wir:
„Heute ist der 19. Februar in Hanau. Und die Erinnerung ist kein wenig verblasst. Es gab in den vielen Reden auf dem Marktplatz und auf den Friedhöfen in Hanau, Offenbach und Dietzenbach eine deutliche Botschaft: Sonntagsreden und symbolische Gesten gibt es viele, aber reichen tun sie nicht. Die Angehörigen haben heute erneut deutlich gemacht, dass sich mit Schaufensterpolitik niemand abspeisen lässt.
Es gab so viele Anschläge, nach denen die Hinterbliebenen vergeblich darauf warteten, dass die Politik ihnen Aufmerksamkeit schenkt, die Hinterbliebenen hört und Tatorte besucht. Das alles gehört in Hanau zwar mittlerweile zum Alltag und doch ist viel zu wenig geschehen. Wenn die Verantwortlichen glauben, dass sie dieses Mal mit ihren Besuchen darüber hinwegtäuschen können, dass sich nichts ändert, haben sie sich getäuscht.“
Initiative 19. Februar Hanau, am 19. Februar 2022
Zum Jahrestag wurde zudem ein Video zu zwei Jahren Kämpfen um Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung und Konsequenzen veröffentlicht.
Videolink Two Years: https://youtu.be/OVIL1SFWp_M
Tribunal NSU-Komplex auflösen vom 3. bis 5. Juni 2022 in Nürnberg
Unter dem Motto „Anerkennen. Aufklären. Verändern!“ findet vom 3. bis zum 5. Juni 2022 das vierte Tribunal „NSU-Komplex auflösen!“ am Staatstheater Nürnberg statt. Wir klagen die Kontinuität von Rassismus in Bayern an! Wir klagen um die Ermordeten im NSU-Komplex und um alle Opfer rechter Gewalt!
Wir fordern:
Anerkennung der Perspektiven der Betroffenen!
Aufklärung und Konsequenzen – Kein Schlussstrich!
Kein nächstes Opfer! Durchbrechen wir die Kontinuität rechten Terrors!
Machen wir die Gesellschaft der Vielen und Kämpfe um Selbstbehauptung und Erinnerung gemeinsam unübersehbar!
Weitere Informationen und Programm: https://www.nsu-tribunal.de/nuernberg/
(Auch aus Hanau wird eine Delegation an diesem Tribunal teilnehmen.)
Veranstaltungshinweise für Hanau und Frankfurt:
Sonntag, 3. Juli 2022, um 16 Uhr in der Bildungsinitiative Ferhat Unvar (Am Freiheitsplatz 6)
Veranstaltung mit Thomas Feltes, Kriminologe aus Bochum
Prof. Dr. Thomas Feltes von der Ruhr-Universität Bochum war am 18. März als Gutachter im Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags geladen. Er hatte eine 15-seitige Stellungnahme verfasst, die er vor seiner Befragung einleitend vortragen wollte. Dies wurde ihm aber untersagt. Unter folgendem Link haben wir diese Stellungnahme in voller Länge dokumentiert:
https://19feb-hanau.org/wp-content/uploads/2022/04/Stellungnahme-Feltes-UA-Hanau-März-2022.pdf
Freitag, 15. Juli 2022 um 19 Uhr in Frankfurt
Podiums-Veranstaltung der Frankfurter Rundschau
FR-Stadtgespräch, Haus am Dom, Domplatz 3, Frankfurt
„Zwei Jahr nach Hanau – Kampf dem rassistischen Terror“
Mit Nancy Faeser (Bundesinnenministerin), Omid Nouripour (Vorsitzender Bündnis 90/Die Grünen, angefragt), Armin Kurtović (Vater von Hamza Kurtović), Newroz Duman (Initiative 19. Februar Hanau).
Moderation: Pitt von Bebenburg und Hanning Voigts