#saytheirnames — Newsletter der Initiative 19. Februar Hanau
Nr. 6 — Januar 2022
Liebe Freundinnen und Freunde,
es waren einmal mehr sehr starke Stimmen der Angehörigen und Überlebenden aus Hanau, die im Dezember 2021 die Anwesenden im Wiesbadener Untersuchungsausschuss (UNA) und über die Medien auch die weitere Öffentlichkeit bewegt und beeindruckt haben. Wer die bislang insgesamt neun Stellungnahmen und Aussagen über die drei Termine hinweg im Zusammenhang verfolgt hat, konnte sich bereits ein gleichermaßen umfassendes wie erschütterndes Bild vom Versagen der Behörden und der Polizei vor, in und nach der Tatnacht des 19.02.2020 in Hanau machen. Zudem haben Angehörige das erste Gutachten von Forensic Architecture, einer unabhängigen Ermittlungsagentur, in die Beweisaufnahme eingeführt: eine Video-Rekonstruktion zum zweiten Tatort, die belegt, dass für fünf Personen in der Arena-Bar, von denen zwei ermordet und zwei schwer verletzt wurden, die Zeit ausgereicht hätte, durch den Notausgang zu fliehen – wenn dieser denn offen gewesen wäre. Zu den drei ersten Sitzungstagen und zum Gutachten mehr auf den folgenden Seiten.
Am Freitag, dem 21. Januar 2022 findet die zunächst letzte der vier Sitzungen statt, in der weitere drei Betroffene Zeugnis ablegen. Erneut wird aus diesem Anlass um 8.30 Uhr eine Mahnwache mit Kundgebung direkt vor dem Landtag stattfinden. Wir wollen den Angehörigen unsere fortgesetzte Solidarität zeigen in ihrem Kampf um lückenlose Aufklärung.
Bereits am Montag, dem 24. Januar folgt ein nächster Sitzungstag des UNA, am 7. sowie 18. Februar 2022 dann zwei weitere Termine – noch vor dem zweiten Jahrestag des rassistischen Terroranschlages von Hanau. Im Jahr 2022 sind insgesamt ca. 20 UNA-Sitzungen terminiert.
Als Initiative 19. Februar werden wir diese kontinuierlich beobachten und gemeinsam mit anderen Initiativen aus der Region regelmäßige Mahnwachen mit Informationsständen organisieren.
Wer mehr und aktuelles wissen oder wer sich an den Mahnwachen beteiligen möchte, bitte gerne melden.
Den vollständigen Newsletter findet ihr hier zum Download, Ausdrucken und Weiterverbreiten.
Untersuchungsausschuss am 3. Dezember – Tag 1
Etwa 100 Menschen haben sich um 8.30 Uhr morgens vor dem Eingang zum hessischen Landtag versammelt: zur Mahnwache mit Kundgebung zur Unterstützung der Angehörigen, die an diesem Tag erstmals vor dem Untersuchungsausschuss zum Hanauer Anschlag aussagten. In einem einführenden Redebeitrag wurde über den absehbaren Ablauf dieses und der folgenden Sitzungstage informiert. Rund um einen Informationstisch hingen Plakate und Fotos mit den Gesichtern der Ermordeten, dazu zwei große Banner mit den vier Forderungen der Initiative: Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung, Konsequenzen.
Die erste öffentliche Sitzung fand viel mediale Aufmerksamkeit, Journalisten und Kamerateams waren außerhalb und innerhalb des Landtags im Einsatz.
Vaska Zlateva, die Cousine von Kaloyan Velkov, dem ersten Opfer am Heumarkt, sagte als erste Zeugin aus. Sie thematisierte den bislang wenig beachteten Umstand, dass von den ersten Schüssen bis zum Auffinden der Leiche von Kaloyan über 25 Minuten vergangen sind. Sie stellte die Frage, warum es so lange gedauert und was das zu bedeuten hat. In der Befragung durch die Abgeordneten macht sie nochmal deutlich, dass sie in der Nacht und auch den nächsten Tagen weder über den Todeszeitpunkt, noch über den Ablauf in der La Votre Bar oder über die Obduktion, sowie über die Möglichkeiten für einen rechtlichen Beistand informiert wurde. Und sie beendet ihr Statement mit einer klaren Ansage: “Ich möchte, dass alle, die Fehler gemacht haben in der Tatnacht und danach, bestraft werden, ich möchte, dass man sich für diese Fehler entschuldigt.“
Hayrettin Saraçoğlu, der Bruder von Fatih, folgte als zweiter Zeuge. Auch er bestätigt, dass es über Tage nicht möglich war, von Behörden Informationen zum Tatablauf und zu seinem toten Bruder zu erhalten. Er thematisierte, wie belastend es war, dass er ein Jahr nach der Tat Gewebeproben seines Bruders ausgehändigt bekam und wie einsam er sich dabei fühlte. Schließlich klagte Hayrettin an – nachdem AfD-Abgeordnete Nachfragen gestellt hatten – dass rassistische Kampagnen, wie insbesondere von der AfD gegen Shisha-Bars, den Boden für solche Anschläge wie in Hanau bereitet hatten
Diana Sokoli, die Lebensgefährtin von Fatih, trat als letzte Zeugin an diesem ersten Sitzungstag auf. Sie beschrieb die schreckliche Situation am Heumarkt und dann in der Turnhalle in Hanau-Lamboy, zu der sie wie viele andere Angehörige in dieser Nacht gebracht wurde. Alle mussten ewig warten, um dann – von einer Liste abgelesen – die gesammelte Todesnachricht zu erhalten. Danach gab es über Tage keine klaren Informationen, keinen Ansprechpartner. Schließlich auch ihre Frage an Polizei und Behörden: „Ein Nazi der im Internet war, mit Waffenschein, wie konnte man das nicht verhindern“.
Untersuchungsausschuss am 17. Dezember – Tag 2
Erneut hatte die Initiative 19. Februar am frühen Morgen zur Mahnwache aufgerufen, erneut waren vor dem Landtag auch viele Medien vertreten. Zusätzlich zum Infostand und Transparenten wurde eine große Tafel mit zehn Plakaten zu den zehn zentralen offenen Fragen des Untersuchungs-ausschusses aufgestellt. In einem kurzen Redebeitrag wurde zunächst die Einstellung des Verfahrens wegen Mittäterschaft durch den Generalbundesanwalt kommentiert. Anschließend erläuterte Björn Elberling, der Rechtsanwalt von Familie Păun bezüglich der Nichterreichbarkeit des Notrufs, warum er der Einstellung des Verfahrens durch die Hanauer Staatsanwaltschaft widerspricht. Dazu würde später Niculescu Păun vor dem UNA aussagen. Doch zunächst wurde die erste Zeugin mit Durchsagen und Applaus in den Landtag verabschiedet.
Emiş Gürbüz eröffnete den Sitzungstag und schildert zunächst, welche Lücke die Ermordung ihres Sohnes Sedat in ihrer Familie gerissen hat und kritisiert das unmenschliche Obduktionsverfahren. Sie beschreibt ihren Kampf um eine würdige Erinnerung in Dietzenbach und trägt ihre zentrale Frage vor: „Wann wollt Ihr endlich lernen? Ihr habt schon so lange gewartet, als mein Kind ermordet wurde. Seit den 80er/90er Jahren sind so viele rassistische Morde passiert in Deutschland. Ich bin sicher: die Morde in Hanau wären nicht geschehen, wenn daraus gelernt worden wäre.“
Als zweiter Zeuge dieses Tages folgt Niculescu Păun, der Vater von Vili. Er beschreibt zunächst die Nacht und den Vormittag des 20.Februar und wie er und seine Frau ihren Sohn suchen. Kein Polizist, keine Behörde informiert sie über den Tod von Vili und auch in den Tagen und Wochen danach: keinerlei Aufklärung über den Tatablauf. Vielmehr muss Nicu Păun selbst herausfinden, dass Vili mehrfach versucht hatte, über die 110 die Polizei zu erreichen und nicht durchkam. Umfassend zeichnet er nach, wie das Notrufversagen zunächst vertuscht, dann teilweise zugegeben und schließlich aber ein Prüfverfahren der Staatsanwaltschaft eingestellt werden sollte. Nicu Păun nennt die Namen der Verantwortlichen, die im weiteren Verlauf des UNA als Zeugen zu diesem offensichtlichen Organisationsversagen geladen werden sollten und überreicht den Abgeordneten entsprechende Unterlagen.
Saida Hashemi, die Schwester von Said Nesar, ist die letzte Zeugin dieses zweiten Sitzungstages und sie trägt in kompakter Form ihre Erlebnisse in der Tatnacht und danach vor. Auch ihre Familie wurde über eine Woche im Unklaren darüber gelassen, was mit der Leiche von Said Nesar passiert und wo sie sich befindet. Über mehrere Monate müssen sie dafür kämpfen, das konfiszierte Handy ihres Bruders zurückzubekommen und dann waren alle Daten gelöscht. Einmal mehr ohne jede Erklärung. Sie beendet ihr Statement mit den folgenden Fragen: „Warum wurden die Familien im Ungewissen gelassen? Warum gab es keine Aufklärung warum, wann, was passierte? Wie kann es sein, dass der Täter legal Waffen besitzen konnte?“
Untersuchungsausschuss am 20. Dezember – Tag 3
Die Mahnwache beginnt erneut mit einer kurzen Kundgebung, während Journalist:innen ihre ersten Interviews starten. An diesem dritten öffentlichen Sitzungstag wird der verschlossene Notausgang beim zweiten Tatort im Mittelpunkt von zwei Zeugenaussagen stehen.
Said Etris Hashemi startet als erster Zeuge und beginnt seine Erklärung mit einer eindrücklichen Schilderung dessen, was er am 19.02.2020 in der Arena-Bar erleben musste und wie die Nacht nur knapp überlebte. Denn er wurde von zwei Kugeln des Mörders getroffen, versuchte dennoch anderen Betroffenen zu helfen und war damit konfrontiert, dass die eintreffende Polizei ihn nach dem Ausweis fragte und der Rettungswagen erst verspätet Richtung Krankenhaus losfahren durfte. Im zweiten Teil seiner Ausführungen stellte Etris Hashemi ein neues Gutachten von Forensic Architecture vor, welches mittels einer Video-Rekonstruktion belegte, was er selbst in den Monaten nach dem Anschlag immer wieder betont hatte: wäre der Notausgang offen gewesen, hätten sie es nach draußen schaffen und fliehen können. Weil dieser aber in der Regel verschlossen war und das auch alle wussten, saßen sie in der Falle.
Zur Armin Kurtovićs Zeugenaussage verweisen wir auf den Zeitungsartikel der Frankfurter Rundschau:
https://www.fr.de/frankfurt/wir-wurden-wie-am-fliessband-abgefertigt-91191930.html
Eine Auswahl der Presseberichte zum Untersuchungsausschuss ist auf der Website der Initiative 19. Februar zu finden: https://19feb-hanau.org/in-der-presse/
Forensic Architecture/Forensis
Auszüge aus dem Gutachten zum Notausgang
Im Folgenden einige Auszüge aus dem Methodenbericht der unabhängigen Ermittlungsagentur, deren Rekonstruktion zum zweiten Tatort von Etris Hashemi am 20.12.2021 im Untersuchungs-ausschuss vorgestellt und an die Abgeordneten übergeben wurde. Viele Medien haben dieses neue Gutachten in ihrer Berichterstattung aufgegriffen.
„Forensic Architecture (FA) wurde zusammen mit ihrer in Berlin sitzenden Schwesterorganisation FORENSIS von der ‚Initiative 19. Februar,‘ sowie der Anwältin von Familie Gültekin damit beauftragt, eine Reihe von Fragen im Zusammenhang mit den Anschlägen zu untersuchen.
(…) Unsere Recherche (will) folgende Frage beantworten:
Wenn die Personen, die sich am 19. Februar 2020 um 22.00 Uhr in der Arena Bar aufhielten, zum Notausgang gelaufen wären, hätten sie dann genug Zeit gehabt, um zu entkommen?
Um diese Frage zu beantworten, hat FA eine Kopie der Aufnahmen der Überwachungskameras aus der Arena Bar vom Zeitpunkt des Angriffes ausgewertet. Das Videomaterial besteht aus Aufnahmen von sechs verschiedenen Kameras, die in der Arena Bar und dem benachbarten Kiosk angebracht waren. Die in diesem Dokument dargelegte Recherche basiert auf einer umfassenden Analyse dieses Filmmaterials. (…)“
FA hat in einer sehr eingehenden Untersuchung die Laufpfade der fünf Personen rekonstruiert, diese dann in Richtung des Notausgangs gespiegelt und bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Täter die Bar betrat, verlängert. FA kommt in dieser beeindruckenden Recherche zu folgendem Fazit:
„Unser hypothetisches Szenario zeigt, dass:
wenn der Notausgang am Abend des Anschlages offen gewesen ist und wenn die fünf jungen Männer in der Arena Bar am Abend des Anschlages statt zum hinteren Teil der Bar (22:00:23) sich zum gleichen Zeitpunkt zum Notausgang bewegt hätten und dabei ähnlich schnell wie bei den realen Ereignissen gewesen wären, dann wären zum Zeitpunkt, an dem der Täter die Bar betreten hat (22:00:32), vier der fünf Personen komplett außerhalb seines Sichtfeldes gewesen. Er hätte den Bruchteil einer Sekunde (ca. 0.2s) Zeit gehabt, um auf die letzte flüchtende Person zu zielen und zu schießen, bevor auch diese aus seinem Sichtfeld verschwunden gewesen wäre.
Den Behauptungen der Hanauer Staatsanwaltschaft widersprechend zeigt unsere Analyse:
Alle fünf Personen hatten genug Zeit, um durch den Notausgang zu entkommen. Wenn der Notausgang offen gewesen ist, und sie das gewusst hätten, dann hätten sie alle den Anschlag überleben können.
Dieses Ergebnis unterstreicht noch einmal, wie wichtig eine gründliche und erschöpfende Untersuchung der allgemeineren Fragen ist, die im Zusammen-hang mit der Arena Bar entstanden sind.
Die wichtigste Frage ist dabei natürlich, ob der Notausgang an jenem Abend wirklich versperrt war – und, falls ja, wie das passieren konnte.
Darüber hinaus wird deutlich, dass der vorherige Umgang der Polizei und anderer Behörden mit der Arena Bar und ihren Besitzern genauer beleuchtet werden sollten, nicht zuletzt wegen der Anschuldigung, dass dieser Umgang dazu beigetragen haben könnten, dass der Notausgang am Tatabend des 19. Februar 2020 versperrt war oder für versperrt gehalten wurde.“
Der gesamte Methodenbericht sowie die Video-Rekonstruktion können unter folgendem Link nachgelesen und angesehen werden:
https://forensic-architecture.org/investigation/hanau-the-arena-bar
Im gleichen Zusammenhang, nämlich für die bestmögliche juristische und forensische Unterstützung der Familien von Hanau, hat die Initiative 19. Februar Hanau eine neue Spendenkampagne „Für lückenlose Aufklärung“ gestartet. Sie findet sich unter folgendem Link:
(Ohne) Konsequenzen
Zur Einstellung des Verfahrens durch den Generalbundesanwalt
Am 16.12.2021 erscheinen am Vormittag erste Artikel in den Medien, denen entsprechend der Generalbundesanwalt (GBA) ankündigt, die Ermittlungen zu Hanau einzustellen. In der entsprechenden Pressemitteilung aus Karlsruhe wurde formuliert: „Nach Ausschöpfung aller relevanten Ermittlungsansätze haben sich keine zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte für eine Beteiligung weiterer Personen als Mittäter, Anstifter, Gehilfen oder Mitwisser ergeben.“ Zum Vater des Täters wird am Ende des Textes ausgeführt: „Ein in erheblichem Umfang übereinstimmendes Weltbild von Vater und Sohn mit extremistischen und verschwörungstheoretischen Tendenzen vermag weder für sich alleine noch mit der vorgenannten zu Tage getretenen Einflussnahme eine Teilnahme oder Mitwisserschaft zu begründen.“
Dazu hat die Initiative 19. Februar am gleichen Tag eine kurze Stellungnahme veröffentlicht, die wir hier dokumentieren:
„(1) Die Generalbundesanwaltschaft (GBA) war ausschließlich mit den Ermittlungen gegen mögliche Mittäter, Mitwisser oder Beihelfer des rassistischen Mörders von Hanau befasst. Wir sehen nicht, dass die Rolle des Vaters des Täters in der Tatnacht ausermittelt ist. Vielmehr haben sich im Zusammenhang mit dem Prozess im Oktober 2021 wegen Beleidigungen des Vaters neue Hinweise darauf ergeben, wie offensiv der Vater das rassistische Weltbild seines Sohnes teilt.
(2) Alle unsere Vorhaltungen, Fragen und Kritiken am polizeilichen und behördlichen Versagen vor, in und nach der Tatnacht waren kein Teil der GBA-Ermittlungen. Insbesondere die Waffenerlaubnisse für den Täter, die Nichterreichbarkeit des polizeilichen Notrufs, der verschlossene Notausgang am zweiten Tatort und die verspätete Stürmung des Täterhauses inklusive der Fragen nach der Rolle rechtsextremistischer SEK-Polizisten in Hanau liegen in der Verantwortung der hessischen Landesregierung und müssen hier aufgeklärt werden.
(3) All diese genannten Versagensfragen stehen im Mittelpunkt des Untersuchungsausschusses im hessischen Landtag, der am morgigen Freitag, 17.12., sowie am Montag, 20.12.2021, mit weiteren Zeug:innenaussagen der Angehörigen und Überlebenden fortgesetzt wird. Morgen werden u.a. das Organisationsversagen bezüglich des polizeilichen Notrufs und am Montag der verschlossene Notausgang im Mittelpunkt der öffentlichen Sitzungen stehen.
Initiative 19. Februar Hanau am 16. Dezember 2021“
Gerechtigkeit
Erste Auszahlungen aus dem hessischen Opferfond
Kurz vor Weihnachten 2021 also rund 22 Monate nach den rassistischen Morden von Hanau haben die Familien der Opfer vom 19. Februar 2020 eine Entschädigungszahlung von der Landesregierung erhalten. Bis dahin hatten sie aus Wiesbaden keinen Cent an finanzieller Unterstützung bekommen.
Fast genau ein Jahr zuvor, im Dezember 2020, hatten die Initiative 19. Februar Hanau, die Beratungsstelle Response aus Frankfurt sowie der Dachverband der Opferberatungsstellen (VBRG) aus Berlin begonnen, Parteienvertreter:innen in Wiesbaden aufzufordern, zur finanziellen Absicherung der Angehörigen und Überlebenden des Anschlags von Hanau einen Fond für Opfer rassistischer Gewalt einzurichten. Im Laufe der folgenden Monate hatten dies auch der Oberbürgermeister der Stadt Hanau mit allen Parteienvertreter:innen sowie bis Mai 2021 über 55.000 Unterzeichner:innen eines entsprechenden Aufrufs unterstützt. Bereits Ende Januar 2021 wurden zwar zwei Millionen Euro für einen allgemeinen Opferfond im Haushalt bereitgestellt, doch es blieb in der noch vagen Umschreibung völlig unklar, wieviel davon die Hanauer Angehörigen erhalten würden. Die Enthüllungen zum Anfang des Jahres (Stichwort: Notrufversagen), die große öffentliche Aufmerksamkeit für die Kette des Versagens bei Behörden und Polizei rund um den ersten Jahrestag, schließlich im Juni 2021 die notgedrungene Auflösung der rassistisch durchsetzen SEK-Einheit in Frankfurt, von der 13 Polizisten in Hanau im Einsatz waren: das alles erhöhte den Druck auf die Politik auch in Sachen Opferfond. Es dauerte dann weitere fünf Monate und benötigte nochmalige öffentliche Ermahnungen, bis die bürokratischen Strukturen eingerichtet und die Auszahlungen in Gang gekommen sind.
Erinnerung
Der zweite Jahrestag am
19. Februar 2022
Bereits in wenigen Wochen jährt sich der rassistische Anschlag von Hanau zum zweiten Mal. Der 19. Februar 2022 fällt auf einen Samstag. Für Hanau laden wir zu einer regionalen Demonstration ein. Zum Jahrestag wünschen wir uns dezentral in vielen Städten Gedenkaktionen und Kundgebungen.
Die Demonstration in Hanau soll nach bisherigem Planungsstand (Stand 12. Januar) am 19.02.22 um 16 Uhr mit einer Kundgebung auf dem Marktplatz beginnen und wird zwei bis drei Stunden dauern.
Am späteren Abend wird es dann wie im letzten Jahr – also zwischen 21.30 und ca. 22.30 Uhr – an den beiden Tatorten Heumarkt und Kurt-Schumacher-Platz parallele Gedenken mit Kerzenmeer und Blumen geben.
Für den Vormittag ist eine Andacht auf dem Friedhof in Planung, und es wird hoffentlich bereits in den Tagen zuvor sowie danach vielfältige Aktivitäten in Hanau geben.
Termine
Ausstellung des Hanauer Kulturvereins in der Remisen-Galerie im Schloss Philippsruhe
Ausstellung und gemeinsame Veranstaltungen des Hanauer Kulturvereins und der Initiative 19. Februar zu den Internationalen Wochen gegen Rassismus
Foto- und Buchprojekt von Jasper Kettner und Ibrahim Arslan: “Die Angehörigen“
In der Fotoausstellung werden Fotos von Familienmitgliedern, Freund*innen und Pat*innen von Menschen gezeigt, die aus rassistischen Gründen ermordet wurden. Nicht die Täter*innen, sondern die Opfer sollen in Erinnerung bleiben. In den ausliegenden Büchern können sich die Besucher*innen näher mit der Geschichte der Verstorbenen und der Hinterbliebenen auseinandersetzen.
Öffnungszeiten: samstags und sonntags 14.00 bis 17.00 Uhr, Eintritt frei
Vernissage am 12. Februar 2022
Zur Vernissage spricht Saida Hashemi, Schwester des ermordeten Nesar Hashemi und des Überlebenden Etris Hashemi.
Informationsabend zum Untersuchungsausschuss am Dienstag, den 22. Februar 2022, 18 Uhr
Finissage am 27. Februar 2022
Zur Finissage gibt es eine Diskussionsrunde unter der Leitung von Joachim Volke: „Ist die Demokratie machtlos/hilflos gegen Rassismus?“
Einführungsgedicht: Melis Ntente, Preisträgerin des HR2 Kulturpreises 2020
Veranstaltungsort: Remisengalerie des Hanauer Kulturvereins und anschließender Kassettensaal, rechtes Torgebäude des Schlosses Philippsruhe, Hanau, Philippsruher Allee 45, 63454 Hanau
Internationale Wochen gegen Rassismus
Globaler Veranstaltungszeitraum: 14.-27. März 2022
In Hanau als Sonderfall beginnt der Projektzeitraum bereits am 19. Februar.
Alle Infos zu Veranstaltungen im Rahmen der Internationalen Wochen gegen Rassismus in Hanau finden sich unter https://www.wgr-hanau.de
#saytheirnames —
Newsletter der Initiative 19. Februar Hanau
Nr. 6 — Januar 2022
Liebe Freundinnen und Freunde,
es waren einmal mehr sehr starke Stimmen der Angehörigen und Überlebenden aus Hanau, die im Dezember 2021 die Anwesenden im Wiesbadener Untersuchungsausschuss (UNA) und über die Medien auch die weitere Öffentlichkeit bewegt und beeindruckt haben. Wer die bislang insgesamt neun Stellungnahmen und Aussagen über die drei Termine hinweg im Zusammenhang verfolgt hat, konnte sich bereits ein gleichermaßen umfassendes wie erschütterndes Bild vom Versagen der Behörden und der Polizei vor, in und nach der Tatnacht des 19.02.2020 in Hanau machen. Zudem haben Angehörige das erste Gutachten von Forensic Architecture, einer unabhängigen Ermittlungsagentur, in die Beweisaufnahme eingeführt: eine Video-Rekonstruktion zum zweiten Tatort, die belegt, dass für fünf Personen in der Arena-Bar, von denen zwei ermordet und zwei schwer verletzt wurden, die Zeit ausgereicht hätte, durch den Notausgang zu fliehen – wenn dieser denn offen gewesen wäre. Zu den drei ersten Sitzungstagen und zum Gutachten mehr auf den folgenden Seiten.
Am Freitag, dem 21. Januar 2022 findet die zunächst letzte der vier Sitzungen statt, in der weitere drei Betroffene Zeugnis ablegen. Erneut wird aus diesem Anlass um 8.30 Uhr eine Mahnwache mit Kundgebung direkt vor dem Landtag stattfinden. Wir wollen den Angehörigen unsere fortgesetzte Solidarität zeigen in ihrem Kampf um lückenlose Aufklärung.
Bereits am Montag, dem 24. Januar folgt ein nächster Sitzungstag des UNA, am 7. sowie 18. Februar 2022 dann zwei weitere Termine – noch vor dem zweiten Jahrestag des rassistischen Terroranschlages von Hanau. Im Jahr 2022 sind insgesamt ca. 20 UNA-Sitzungen terminiert.
Als Initiative 19. Februar werden wir diese kontinuierlich beobachten und gemeinsam mit anderen Initiativen aus der Region regelmäßige Mahnwachen mit Informationsständen organisieren.
Wer mehr und aktuelles wissen oder wer sich an den Mahnwachen beteiligen möchte, bitte gerne melden.
Untersuchungsausschuss am 3. Dezember – Tag 1
Etwa 100 Menschen haben sich um 8.30 Uhr morgens vor dem Eingang zum hessischen Landtag versammelt: zur Mahnwache mit Kundgebung zur Unterstützung der Angehörigen, die an diesem Tag erstmals vor dem Untersuchungsausschuss zum Hanauer Anschlag aussagten. In einem einführenden Redebeitrag wurde über den absehbaren Ablauf dieses und der folgenden Sitzungstage informiert. Rund um einen Informationstisch hingen Plakate und Fotos mit den Gesichtern der Ermordeten, dazu zwei große Banner mit den vier Forderungen der Initiative: Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung, Konsequenzen.
Die erste öffentliche Sitzung fand viel mediale Aufmerksamkeit, Journalisten und Kamerateams waren außerhalb und innerhalb des Landtags im Einsatz.
Vaska Zlateva, die Cousine von Kaloyan Velkov, dem ersten Opfer am Heumarkt, sagte als erste Zeugin aus. Sie thematisierte den bislang wenig beachteten Umstand, dass von den ersten Schüssen bis zum Auffinden der Leiche von Kaloyan über 25 Minuten vergangen sind. Sie stellte die Frage, warum es so lange gedauert und was das zu bedeuten hat. In der Befragung durch die Abgeordneten macht sie nochmal deutlich, dass sie in der Nacht und auch den nächsten Tagen weder über den Todeszeitpunkt, noch über den Ablauf in der La Votre Bar oder über die Obduktion, sowie über die Möglichkeiten für einen rechtlichen Beistand informiert wurde. Und sie beendet ihr Statement mit einer klaren Ansage: “Ich möchte, dass alle, die Fehler gemacht haben in der Tatnacht und danach, bestraft werden, ich möchte, dass man sich für diese Fehler entschuldigt.“
Hayrettin Saraçoğlu, der Bruder von Fatih, folgte als zweiter Zeuge. Auch er bestätigt, dass es über Tage nicht möglich war, von Behörden Informationen zum Tatablauf und zu seinem toten Bruder zu erhalten. Er thematisierte, wie belastend es war, dass er ein Jahr nach der Tat Gewebeproben seines Bruders ausgehändigt bekam und wie einsam er sich dabei fühlte. Schließlich klagte Hayrettin an – nachdem AfD-Abgeordnete Nachfragen gestellt hatten – dass rassistische Kampagnen, wie insbesondere von der AfD gegen Shisha-Bars, den Boden für solche Anschläge wie in Hanau bereitet hatten.
Diana Sokoli, die Lebensgefährtin von Fatih, trat als letzte Zeugin an diesem ersten Sitzungstag auf. Sie beschrieb die schreckliche Situation am Heumarkt und dann in der Turnhalle in Hanau-Lamboy, zu der sie wie viele andere Angehörige in dieser Nacht gebracht wurde. Alle mussten ewig warten, um dann – von einer Liste abgelesen – die gesammelte Todesnachricht zu erhalten. Danach gab es über Tage keine klaren Informationen, keinen Ansprechpartner. Schließlich auch ihre Frage an Polizei und Behörden: „Ein Nazi der im Internet war, mit Waffenschein, wie konnte man das nicht verhindern“.
Untersuchungsausschuss am 17. Dezember – Tag 2
Erneut hatte die Initiative 19. Februar am frühen Morgen zur Mahnwache aufgerufen, erneut waren vor dem Landtag auch viele Medien vertreten. Zusätzlich zum Infostand und Transparenten wurde eine große Tafel mit zehn Plakaten zu den zehn zentralen offenen Fragen des Untersuchungs-ausschusses aufgestellt. In einem kurzen Redebeitrag wurde zunächst die Einstellung des Verfahrens wegen Mittäterschaft durch den Generalbundesanwalt kommentiert. Anschließend erläuterte Björn Elberling, der Rechtsanwalt von Familie Păun bezüglich der Nichterreichbarkeit des Notrufs, warum er der Einstellung des Verfahrens durch die Hanauer Staatsanwaltschaft widerspricht. Dazu würde später Niculescu Păun vor dem UNA aussagen. Doch zunächst wurde die erste Zeugin mit Durchsagen und Applaus in den Landtag verabschiedet.
Emiş Gürbüz eröffnete den Sitzungstag und schildert zunächst, welche Lücke die Ermordung ihres Sohnes Sedat in ihrer Familie gerissen hat und kritisiert das unmenschliche Obduktionsverfahren. Sie beschreibt ihren Kampf um eine würdige Erinnerung in Dietzenbach und trägt ihre zentrale Frage vor: „Wann wollt Ihr endlich lernen? Ihr habt schon so lange gewartet, als mein Kind ermordet wurde. Seit den 80er/90er Jahren sind so viele rassistische Morde passiert in Deutschland. Ich bin sicher: die Morde in Hanau wären nicht geschehen, wenn daraus gelernt worden wäre.“
Als zweiter Zeuge dieses Tages folgt Niculescu Păun, der Vater von Vili. Er beschreibt zunächst die Nacht und den Vormittag des 20.Februar und wie er und seine Frau ihren Sohn suchen. Kein Polizist, keine Behörde informiert sie über den Tod von Vili und auch in den Tagen und Wochen danach: keinerlei Aufklärung über den Tatablauf. Vielmehr muss Nicu Păun selbst herausfinden, dass Vili mehrfach versucht hatte, über die 110 die Polizei zu erreichen und nicht durchkam. Umfassend zeichnet er nach, wie das Notrufversagen zunächst vertuscht, dann teilweise zugegeben und schließlich aber ein Prüfverfahren der Staatsanwaltschaft eingestellt werden sollte. Nicu Păun nennt die Namen der Verantwortlichen, die im weiteren Verlauf des UNA als Zeugen zu diesem offensichtlichen Organisationsversagen geladen werden sollten und überreicht den Abgeordneten entsprechende Unterlagen.
Saida Hashemi, die Schwester von Said Nesar, ist die letzte Zeugin dieses zweiten Sitzungstages und sie trägt in kompakter Form ihre Erlebnisse in der Tatnacht und danach vor. Auch ihre Familie wurde über eine Woche im Unklaren darüber gelassen, was mit der Leiche von Said Nesar passiert und wo sie sich befindet. Über mehrere Monate müssen sie dafür kämpfen, das konfiszierte Handy ihres Bruders zurückzubekommen und dann waren alle Daten gelöscht. Einmal mehr ohne jede Erklärung. Sie beendet ihr Statement mit den folgenden Fragen: „Warum wurden die Familien im Ungewissen gelassen? Warum gab es keine Aufklärung warum, wann, was passierte? Wie kann es sein, dass der Täter legal Waffen besitzen konnte?“
Untersuchungsausschuss am 20. Dezember – Tag 3
Die Mahnwache beginnt erneut mit einer kurzen Kundgebung, während Journalist:innen ihre ersten Interviews starten. An diesem dritten öffentlichen Sitzungstag wird der verschlossene Notausgang beim zweiten Tatort im Mittelpunkt von zwei Zeugenaussagen stehen.
Said Etris Hashemi startet als erster Zeuge und beginnt seine Erklärung mit einer eindrücklichen Schilderung dessen, was er am 19.02.2020 in der Arena-Bar erleben musste und wie die Nacht nur knapp überlebte. Denn er wurde von zwei Kugeln des Mörders getroffen, versuchte dennoch anderen Betroffenen zu helfen und war damit konfrontiert, dass die eintreffende Polizei ihn nach dem Ausweis fragte und der Rettungswagen erst verspätet Richtung Krankenhaus losfahren durfte. Im zweiten Teil seiner Ausführungen stellte Etris Hashemi ein neues Gutachten von Forensic Architecture vor, welches mittels einer Video-Rekonstruktion belegte, was er selbst in den Monaten nach dem Anschlag immer wieder betont hatte: wäre der Notausgang offen gewesen, hätten sie es nach draußen schaffen und fliehen können. Weil dieser aber in der Regel verschlossen war und das auch alle wussten, saßen sie in der Falle.
Zur Armin Kurtovićs Zeugenaussage verweisen wir auf den Zeitungsartikel der Frankfurter Rundschau:
https://www.fr.de/frankfurt/wir-wurden-wie-am-fliessband-abgefertigt-91191930.html
Eine Auswahl der Presseberichte zum Untersuchungsausschuss ist auf der Website der Initiative 19. Februar zu finden: https://19feb-hanau.org/in-der-presse/
Forensic Architecture/Forensis
Auszüge aus dem Gutachten zum Notausgang
Im Folgenden einige Auszüge aus dem Methodenbericht der unabhängigen Ermittlungsagentur, deren Rekonstruktion zum zweiten Tatort von Etris Hashemi am 20.12.2021 im Untersuchungs-ausschuss vorgestellt und an die Abgeordneten übergeben wurde. Viele Medien haben dieses neue Gutachten in ihrer Berichterstattung aufgegriffen.
„Forensic Architecture (FA) wurde zusammen mit ihrer in Berlin sitzenden Schwesterorganisation FORENSIS von der ‚Initiative 19. Februar,‘ sowie der Anwältin von Familie Gültekin damit beauftragt, eine Reihe von Fragen im Zusammenhang mit den Anschlägen zu untersuchen.
(…) Unsere Recherche (will) folgende Frage beantworten:
Wenn die Personen, die sich am 19. Februar 2020 um 22.00 Uhr in der Arena Bar aufhielten, zum Notausgang gelaufen wären, hätten sie dann genug Zeit gehabt, um zu entkommen?
Um diese Frage zu beantworten, hat FA eine Kopie der Aufnahmen der Überwachungskameras aus der Arena Bar vom Zeitpunkt des Angriffes ausgewertet. Das Videomaterial besteht aus Aufnahmen von sechs verschiedenen Kameras, die in der Arena Bar und dem benachbarten Kiosk angebracht waren. Die in diesem Dokument dargelegte Recherche basiert auf einer umfassenden Analyse dieses Filmmaterials. (…)“
FA hat in einer sehr eingehenden Untersuchung die Laufpfade der fünf Personen rekonstruiert, diese dann in Richtung des Notausgangs gespiegelt und bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Täter die Bar betrat, verlängert. FA kommt in dieser beeindruckenden Recherche zu folgendem Fazit:
„Unser hypothetisches Szenario zeigt, dass:
wenn der Notausgang am Abend des Anschlages offen gewesen ist und wenn die fünf jungen Männer in der Arena Bar am Abend des Anschlages statt zum hinteren Teil der Bar (22:00:23) sich zum gleichen Zeitpunkt zum Notausgang bewegt hätten und dabei ähnlich schnell wie bei den realen Ereignissen gewesen wären,
dann wären zum Zeitpunkt, an dem der Täter die Bar betreten hat (22:00:32), vier der fünf Personen komplett außerhalb seines Sichtfeldes gewesen. Er hätte den Bruchteil einer Sekunde (ca. 0.2s) Zeit gehabt, um auf die letzte flüchtende Person zu zielen und zu schießen, bevor auch diese aus seinem Sichtfeld verschwunden gewesen wäre.
Den Behauptungen der Hanauer Staatsanwaltschaft widersprechend zeigt unsere Analyse:
Alle fünf Personen hatten genug Zeit, um durch den Notausgang zu entkommen. Wenn der Notausgang offen gewesen ist, und sie das gewusst hätten, dann hätten sie alle den Anschlag überleben können.
Dieses Ergebnis unterstreicht noch einmal, wie wichtig eine gründliche und erschöpfende Untersuchung der allgemeineren Fragen ist, die im Zusammen-hang mit der Arena Bar entstanden sind.
Die wichtigste Frage ist dabei natürlich, ob der Notausgang an jenem Abend wirklich versperrt war – und, falls ja, wie das passieren konnte.
Darüber hinaus wird deutlich, dass der vorherige Umgang der Polizei und anderer Behörden mit der Arena Bar und ihren Besitzern genauer beleuchtet werden sollten, nicht zuletzt wegen der Anschuldigung, dass dieser Umgang dazu beigetragen haben könnten, dass der Notausgang am Tatabend des 19. Februar 2020 versperrt war oder für versperrt gehalten wurde.“
Der gesamte Methodenbericht sowie die Video-Rekonstruktion können unter folgendem Link nachgelesen und angesehen werden:
https://forensic-architecture.org/investigation/hanau-the-arena-bar
Im gleichen Zusammenhang, nämlich für die bestmögliche juristische und forensische Unterstützung der Familien von Hanau, hat die Initiative 19. Februar Hanau eine neue Spendenkampagne „Für lückenlose Aufklärung“ gestartet. Sie findet sich unter folgendem Link:
(Ohne) Konsequenzen
Zur Einstellung des Verfahrens durch den Generalbundesanwalt
Am 16.12.2021 erscheinen am Vormittag erste Artikel in den Medien, denen entsprechend der Generalbundesanwalt (GBA) ankündigt, die Ermittlungen zu Hanau einzustellen. In der entsprechenden Pressemitteilung aus Karlsruhe wurde formuliert: „Nach Ausschöpfung aller relevanten Ermittlungsansätze haben sich keine zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte für eine Beteiligung weiterer Personen als Mittäter, Anstifter, Gehilfen oder Mitwisser ergeben.“ Zum Vater des Täters wird am Ende des Textes ausgeführt: „Ein in erheblichem Umfang übereinstimmendes Weltbild von Vater und Sohn mit extremistischen und verschwörungstheoretischen Tendenzen vermag weder für sich alleine noch mit der vorgenannten zu Tage getretenen Einflussnahme eine Teilnahme oder Mitwisserschaft zu begründen.“
Dazu hat die Initiative 19. Februar am gleichen Tag eine kurze Stellungnahme veröffentlicht, die wir hier dokumentieren:
„(1) Die Generalbundesanwaltschaft (GBA) war ausschließlich mit den Ermittlungen gegen mögliche Mittäter, Mitwisser oder Beihelfer des rassistischen Mörders von Hanau befasst. Wir sehen nicht, dass die Rolle des Vaters des Täters in der Tatnacht ausermittelt ist. Vielmehr haben sich im Zusammenhang mit dem Prozess im Oktober 2021 wegen Beleidigungen des Vaters neue Hinweise darauf ergeben, wie offensiv der Vater das rassistische Weltbild seines Sohnes teilt.
(2) Alle unsere Vorhaltungen, Fragen und Kritiken am polizeilichen und behördlichen Versagen vor, in und nach der Tatnacht waren kein Teil der GBA-Ermittlungen. Insbesondere die Waffenerlaubnisse für den Täter, die Nichterreichbarkeit des polizeilichen Notrufs, der verschlossene Notausgang am zweiten Tatort und die verspätete Stürmung des Täterhauses inklusive der Fragen nach der Rolle rechtsextremistischer SEK-Polizisten in Hanau liegen in der Verantwortung der hessischen Landesregierung und müssen hier aufgeklärt werden.
(3) All diese genannten Versagensfragen stehen im Mittelpunkt des Untersuchungsausschusses im hessischen Landtag, der am morgigen Freitag, 17.12., sowie am Montag, 20.12.2021, mit weiteren Zeug:innenaussagen der Angehörigen und Überlebenden fortgesetzt wird. Morgen werden u.a. das Organisationsversagen bezüglich des polizeilichen Notrufs und am Montag der verschlossene Notausgang im Mittelpunkt der öffentlichen Sitzungen stehen.
Initiative 19. Februar Hanau am 16. Dezember 2021“
Gerechtigkeit
Erste Auszahlungen aus dem hessischen Opferfond
Kurz vor Weihnachten 2021 also rund 22 Monate nach den rassistischen Morden von Hanau haben die Familien der Opfer vom 19. Februar 2020 eine Entschädigungszahlung von der Landesregierung erhalten. Bis dahin hatten sie aus Wiesbaden keinen Cent an finanzieller Unterstützung bekommen.
Fast genau ein Jahr zuvor, im Dezember 2020, hatten die Initiative 19. Februar Hanau, die Beratungsstelle Response aus Frankfurt sowie der Dachverband der Opferberatungsstellen (VBRG) aus Berlin begonnen, Parteienvertreter:innen in Wiesbaden aufzufordern, zur finanziellen Absicherung der Angehörigen und Überlebenden des Anschlags von Hanau einen Fond für Opfer rassistischer Gewalt einzurichten. Im Laufe der folgenden Monate hatten dies auch der Oberbürgermeister der Stadt Hanau mit allen Parteienvertreter:innen sowie bis Mai 2021 über 55.000 Unterzeichner:innen eines entsprechenden Aufrufs unterstützt. Bereits Ende Januar 2021 wurden zwar zwei Millionen Euro für einen allgemeinen Opferfond im Haushalt bereitgestellt, doch es blieb in der noch vagen Umschreibung völlig unklar, wieviel davon die Hanauer Angehörigen erhalten würden. Die Enthüllungen zum Anfang des Jahres (Stichwort: Notrufversagen), die große öffentliche Aufmerksamkeit für die Kette des Versagens bei Behörden und Polizei rund um den ersten Jahrestag, schließlich im Juni 2021 die notgedrungene Auflösung der rassistisch durchsetzen SEK-Einheit in Frankfurt, von der 13 Polizisten in Hanau im Einsatz waren: das alles erhöhte den Druck auf die Politik auch in Sachen Opferfond. Es dauerte dann weitere fünf Monate und benötigte nochmalige öffentliche Ermahnungen, bis die bürokratischen Strukturen eingerichtet und die Auszahlungen in Gang gekommen sind.
Erinnerung
Der zweite Jahrestag am
19. Februar 2022
Bereits in wenigen Wochen jährt sich der rassistische Anschlag von Hanau zum zweiten Mal. Der 19. Februar 2022 fällt auf einen Samstag. Für Hanau laden wir zu einer regionalen Demonstration ein. Zum Jahrestag wünschen wir uns dezentral in vielen Städten Gedenkaktionen und Kundgebungen.
Die Demonstration in Hanau soll nach bisherigem Planungsstand (Stand 12. Januar) am 19.02.22 um 16 Uhr mit einer Kundgebung auf dem Marktplatz beginnen und wird zwei bis drei Stunden dauern.
Am späteren Abend wird es dann wie im letzten Jahr – also zwischen 21.30 und ca. 22.30 Uhr – an den beiden Tatorten Heumarkt und Kurt-Schumacher-Platz parallele Gedenken mit Kerzenmeer und Blumen geben.
Für den Vormittag ist eine Andacht auf dem Friedhof in Planung, und es wird hoffentlich bereits in den Tagen zuvor sowie danach vielfältige Aktivitäten in Hanau geben.
Termine
Ausstellung des Hanauer Kulturvereins in der Remisen-Galerie im Schloss Philippsruhe
Ausstellung und gemeinsame Veranstaltungen des Hanauer Kulturvereins und der Initiative 19. Februar zu den Internationalen Wochen gegen Rassismus
Foto- und Buchprojekt von Jasper Kettner und Ibrahim Arslan: “Die Angehörigen“
In der Fotoausstellung werden Fotos von Familienmitgliedern, Freund*innen und Pat*innen von Menschen gezeigt, die aus rassistischen Gründen ermordet wurden. Nicht die Täter*innen, sondern die Opfer sollen in Erinnerung bleiben. In den ausliegenden Büchern können sich die Besucher*innen näher mit der Geschichte der Verstorbenen und der Hinterbliebenen auseinandersetzen.
Öffnungszeiten: samstags und sonntags 14.00 bis 17.00 Uhr, Eintritt frei
Vernissage am 12. Februar 2022
Zur Vernissage spricht Saida Hashemi, Schwester des ermordeten Nesar Hashemi und des Überlebenden Etris Hashemi.
Informationsabend zum Untersuchungsausschuss am Dienstag, den 22. Februar 2022, 18 Uhr
Finissage am 27. Februar 2022
Zur Finissage gibt es eine Diskussionsrunde unter der Leitung von Joachim Volke: „Ist die Demokratie machtlos/hilflos gegen Rassismus?“
Einführungsgedicht: Melis Ntente, Preisträgerin des HR2 Kulturpreises 2020
Veranstaltungsort: Remisengalerie des Hanauer Kulturvereins und anschließender Kassettensaal, rechtes Torgebäude des Schlosses Philippsruhe, Hanau, Philippsruher Allee 45, 63454 Hanau
Internationale Wochen gegen Rassismus
Globaler Veranstaltungszeitraum: 14.-27. März 2022
In Hanau als Sonderfall beginnt der Projektzeitraum bereits am 19. Februar.
Alle Infos zu Veranstaltungen im Rahmen der Internationalen Wochen gegen Rassismus in Hanau finden sich unter https://www.wgr-hanau.de