Wie der hessische Innenminister Peter Beuth Parlament und Öffentlichkeit vorsätzlich täuscht
Stand: 13.07.2021
Am 11.Februar 2021 gibt Innenminister Beuth im Innenausschuss des hessischen Landtags eine Erklärung ab. Er räumt nach den entsprechenden medialen Veröffentlichungen der Vortage nochmals ein, dass es technische Probleme mit der 110 in Hanau gab. Gleichzeitig täuscht er den Eindruck vor, dass der Notruf in der Tatzeit zunächst mit zwei und dann sogar drei Personen besetzt war.
„Meine sehr geehrten Damen und Herren, die hessische Polizei ist eine gut aufgestellte Polizei. Das hat sie auch vor einem Jahr in Hanau bewiesen. So sind nach dem Eingang des ersten Notrufs bereits nach wenigen Minuten Polizeikräfte am ersten Tatort eingetroffen. Die bei der Polizeistation Hanau I vorhandenen Notruftelefone waren besetzt, und es wurden in der Folge weitere Anrufe angenommen.“ (Seite 15 des Protokolls vom 11.2.2021)
„Zur unmittelbaren Tatzeit haben sich zwei Polizeibeamtinnen der Polizeistation Hanau I sofort mit der Entgegennahme der Notrufe befasst. Zur Unterstützung für den weiteren Einsatzverlauf wurde ein zusätzlicher Polizeibeamter hinzugezogen.“ (Seite 23 des Protokolls vom 11.2.2021)
Zweifel an der personellen Besetzung gab es bereits Ende Januar 2021, als Hessenschau, Spiegel und Monitor erstmals vom technischen Versagen des Notrufs berichteten. Doch der Innenminister widerspricht der Unterbesetzung mit obigen Zitaten und täuscht damit vorsätzlich den Innenausschuss und die Öffentlichkeit.
Mit der Veröffentlichung der Staatsanwaltschaft Hanau am 5. Juli 2021 lässt sich der Ablauf in den entscheidenden 10 Minuten nun weitgehend rekonstruieren. In der Tatzeit zwischen 21:55 und 22:05 war – von einem Notruf mit 16 Sekunden abgesehen – nur eine Beamtin im Einsatz, die in dieser entscheidenden Phase insgesamt nur zwei Notrufe entgegennehmen konnte. Alle anderen Notrufe scheiterten, darunter auch drei Versuche von Vili Viorel Păun.
Die besagte Polizeibeamtin saß durchweg an der einen der beiden verfügbaren Leitungen und nahm um 21:56:34 einen ersten Notruf vom ersten Tatort an, der ca. drei Minuten lang dauerte. Ein zweiter Beamter nahm parallel um 21:56:42 auf der zweiten Leitung einen weiteren Notruf vom Heumarkt entgegen. Dieses Gespräch endete allerdings bereits nach 16 Sekunden, sofort danach verließ dieser Polizist den Notrufplatz und fuhr mit einem Kollegen zum Tatort.
Ab 21:56:58 – und damit in den entschiedenen nachfolgenden Minuten – war also nur noch eine der zwei Notrufleitungen von einer Beamtin besetzt, die zweite Leitung blieb komplett unbesetzt. Wer hier anrief, hörte entweder ein unbeantwortetes Frei-Zeichen, ein Besetzt-Zeichen oder – wie die Staatsanwaltschaft in ihrer Veröffentlichung vom 5. Juli 2021 formuliert: „schlicht Stille“.
Um 21:57:54 Uhr versuchte Vili Viorel Păun das erste Mal, die 110 zu erreichen. Wie sich durch Video-Aufzeichnungen rekonstruieren lässt, tätigt Vili diesen ersten Anruf eine knappe halbe Minute, bevor er – den Täter nach Kesselstadt verfolgend – den Tunnel am Hanauer Westbahnhof durchfährt. Das heißt, dass dieser erste Anruf in der Herrnstrasse oder vom Kanaltorplatz aus stattfand, als Vili den Täter zunächst verfolgt und versucht hatte, dessen Abfahrt mit seinem Auto zu blockieren.
Hätte Vili Viorel Păun hier den Polizei-Notruf auf der nicht besetzten zweiten Leitung erreicht, wäre er mit Sicherheit vor der Verfolgung des Täters gewarnt oder sogar zum Abbruch gemahnt worden. Er hätte damit sein eigenes Leben retten können. Gleichzeitig hätte die Polizei von Vili das Autokennzeichen des Täters und dessen Fahrtrichtung nach Hanau Kesselstadt erfahren und eine sofortige Fahndung nach dem Täter starten können.
Ab dem ersten Anrufversuch von Vili Viorel Păun dauerte es immerhin noch 2 Minuten und 34 Sekunden, bis der Täter den zweiten Tatort in Kesselstadt um 22:00:28 Uhr betrat. Ob diese Zeit hätte reichen können, um die Morde am zweiten Tatort zu verhindern, bleibt ungewiss. Doch aufgezeichnet und auch von der Staatsanwaltschaft Hanau bestätigt ist, dass Vili Viorel Păun in dieser Zeit zwei weitere Male – um 21:58:42 und um 21:59:17 – nicht zum Hanauer Polizei-Notruf durchkommt. Also zwei weitere Chancen für das Leben von Vili, doch die zweite Leitung war und blieb in dieser entscheidenden Tatzeit bereits verlassen und damit unbesetzt – ganz im Gegensatz zu dem, was der Innenminister noch am 11.2.21 in seiner Erklärung vor dem Innenausschuss suggeriert.
Bestätigt wird die nicht besetzte zweite Leitung nun nochmals vom Leiter der Polizeidirektion Hanau, Jürgen Fehler, in einer aktuellen HR-Dokumentation. Zitat: „Die Polizei gehört auf die Strasse, und hat die Gefahr draußen anzugehen und nicht auf einer Wache zu warten, ob da noch weitere Telefonate eingehen.“ Fehler bestreitet also nicht mehr wie sein Innenminister, dass der Notruf in der entscheidenden Phase nur noch mit einer Person besetzt war. Er rechtfertigt es mit der Situation und bringt aber nicht den Mut auf, die eigene Unterbesetzung und Überforderung und auch die Tatsache, dass es Gefahrenlagen gibt, in denen der Besetzung der Notrufplätze besondere Bedeutung zukommt, selbstkritisch zu reflektieren.
Dass die technische Ausrüstung sowie die personelle Ausstattung des Hanauer Polizeinotrufs seit vielen Jahren in der polizei-internen Kritik stand, war bereits in früheren Presseveröffentlichungen zur Sprache gekommen. Die Staatsanwaltschaft Hanau hat die nahezu 20-jährige Geschichte des Hanauer Notruf-Desasters nochmals nachgezeichnet und in diesen – bislang allerdings noch nicht veröffentlichten – Ausführungen insbesondere darauf hingewiesen, dass bereits 2016 bei der hessischen Polizei Szenarien durchgespielt worden, die deutlich gemacht haben, wie wichtig eine möglichst große Anzahl von Notrufabfrageplätzen ist. In den Ausführungen der Staatsanwaltschaft Hanau wird dargelegt, dass bereits 2016 innerhalb der hessischen Polizei nach Erfahrungen aus Terroranschlägen erkannt worden sei, dass es in den Minuten nach einem Anschlagsgeschehen besonders wichtig sei, eine möglichst große Anzahl von Notrufabfrageplätzen zur Verfügung zu haben, um mit dem zu erwartenden erhebliche Notrufaufkommen umgehen können. Es wird dabei vor allem auf mobile Täter hingewiesen, die (auf der Flucht) in kürzester Zeit eine gewisse Strecke zurücklegen können, so dass bei einer unzureichenden Kapazität der Notrufabfrageplätze Ortsangaben für die eingesetzten Kräfte nur stark verzögert oder inaktuell übermittelt werden könnten. Dabei erklärt die Staatsanwaltschaft ausdrücklich, dass dieses beschriebene Szenario Ähnlichkeiten zu der vorliegenden Fallgestaltung des Anschlags von Hanau vom 19.02.2020 aufweist.
Es wäre mehr als irritierend wenn der Leiter der Polizeidirektion Hanau von dieser internen Kritik und Aufarbeitung nichts mitbekommen und angesichts dieser dringenden Problemlage nichts unternommen hätte. Spätestens ab Mai 2020, als Niculescu Păun zum ersten Mal öffentlich thematisierte, dass sein Sohn vergeblich versucht hatte, den Notruf zu erreichen, sollte dieses Thema auch erneut in der Hanauer Polizeidirektion angekommen sein.
Dass jedenfalls die Polizeiführung in Südosthessen und auch der hessische Innenminister, der immerhin seit 2014 in Wiesbaden im Amt ist, von dieser internen Auseinandersetzung und den zentralen Hinweisen bezüglich der Hanauer Notrufeinschränkung und der entsprechenden Gefahren und Risiken nichts mitbekommen hat, ist kaum glaubhaft.
Wenn der hessische Innenminister Peter Beuth es wirklich nicht wusste, sollte er wegen Unfähigkeit zurücktreten. Wenn er es wusste, sollte er wegen Vertuschung erst recht zurücktreten. Denn beim Notruf-Desaster von Hanau hat der Innenminister offensichtlich mehrfach vorsätzlich getäuscht.
Initiative 19. Februar Hanau am 13. Juli 2021