9 Dunkle Rosen
Gedanken und Gefühle von Kasse 4
Jackqueline Mwaura
Ein großes Fest wünschten sich unsere Stammkunden, Nachbarn und Kollegen zur großen Eröffnung des neuen Lebensmittel-Hot-Spots am Kesselstädter Marktplatz. Ein großes Fest mit Ballons und Glücksrad, einfach alles, was die Marketing Abteilung des Diskounters hätte hergeben können. Lachende Kinder und begeisterte Kunden, aufgeregte Kollegen und neugierige Besucher wurden schon im Voraus freudig erwartet. Spaß war der Plan, obwohl es auf dem Gelände schon einen Unfall mit negativem Verlauf für eine ältere Dame gegeben hatte. Viel Spaß sollte es geben. Doch wie anders es kam, hätte keiner geahnt. So anders, dass es die ganze Welt vernahm. So anders, dass statt der Freude auf das Neue vor allem Trauer und Angst über das Verlorene den Kurt-Schuhmacher-Platz einnahmen.
„Shots fired – terroristic Attack in Hanau Germany“
Das Handy brummt ohne Ende, der wLan Empfang ist schwach bei sternklarer Nacht. Mein Freund und ich sind ausgesperrt, bis die Tante, bei der wir in Nairobi zu Besuch sind, aufwacht. Wir empfangen Nachrichten aus und über unseren unmittelbaren Wohnort. Freunde auf der Suche nach Freunden, die sich sorgen und hoffen, dass sie alle erreichen. Anwohner, die von Hubschraubern und Sirenen erzählen und dabei viele Fragen ohne Antworten verschicken. Angst und Ohnmacht nehmen ab jetzt alles ein.
Auf einem kleinen alten Fernseher lesen wir im Breaking News Balken von gefallenen Schüssen und einem Angriff auf Leib und Leben in unserer Stadt, während wir am anderen Ende der Welt sind. Wie sehen in den frühen Stunden des nächstes Tages, wie Polizei und Presse unsere Nachbarschaft belagern und in die Welt berichten. Als wir solche Medienberichte von früheren Taten von anderen Tragödien mitbekamen, waren wir entfernte Zuhörer. Jetzt Betroffene. Wie unmittelbar, würde sich für Jeden im Laufe der Zeit zeigen.
An den Flughäfen auf dem Weg zurück bemerken nun die wenigen, die auf meine Reisedokumenten schauen können, dass ich nach Hanau möchte. Hanau – 5 Buchstaben, die sich in den wenigen Tagen eingeprägt haben und zu betrübten Gesprächen führen. Absperrungen und Kontrollposten stellten nun den Weg heim und zur Arbeit dar und stärkten täglich die Beklemmungen. Großen Bogen machen oder selbstbehauptend genau den Weg entlang laufen, der am Ursprung des Leides vorbei führt? Vorbei am Kontrollposten in der Zwischengasse, vorbei an den Blumen zur Arbeit im Supermarkt.
„Hey, wann eröffnet ihr endlich“?
Die Vorfreude auf ein neues Erlebnis beim Einkauf war groß. Stammkunden und Kollegen freuten sich auf das neue Jahr mit alten Bekannten. Das Jahr kam, die Baustelle schritt voran und dann, ja dann. Wir räumen ein, bereiten vor oder packen aus im Stillen. Nur die restlichen zugereisten Handwerker aus Sachsen und Bayern sind gut gelaunt. Aus Rücksicht auf die veränderten Lebensumstände der Anwohner, Angehörigen und die Vorgänge am Tatort wurde die Eröffnung verschoben. 9 dunkle Rosen zum Gedenken aufgestellt, emotionale und emphatische statt fröhliche Handelsgespräche sowie ein Sicherheitsdienst sind es geworden. Das übliche Tempo war unter diesen Umständen nicht einzuhalten. Es war schon im Betrieb klar, dass die Abläufe an der Hauptkasse Nr. 4 anders sein werden. Gefühlsausbrüche wie verzweifelte Rufe und Tränen waren mein Begleiter über den Tag. Die meisten Menschen trugen ihre Emotionen auf der Zunge und hielten mit Aussagen wie „meine Kinder schreien und schlafen vor Angst nicht mehr, wenn sie einen Knall hören“ nicht zurück.
„Ich komme nicht mehr abends einkaufen weil ich Angst habe“, lautete auch mal die Begrüßung an mich. „Was ist, wenn noch jemand ein Attentat hier verüben will?“ oder „Die Wahrheit kennen wir nicht, aber wenigstens gibt es hier am Ausgang Security“. Es entwickelte sich immer mehr zu einer Kummer-Kasse, bei der immer wieder kleine Zusammenbrüche stattfanden.
Wenn die Nerven blank liegen und 1,00 Meter einen Unterschied zu 1,50 Meter ausmachen, sind gereizte Gemüter schnell in Rage und Schimpfwörter fallen. Dann ist es schön, wenn die Rücksichtnahme gewinnt.
Wo Mütter und Kumpel sich zum Smalltalk trafen, halten keine Mengen an Menschen mehr an zum Quatschen sondern zum Innehalten. Wo Kinder hin und her rannten und Autofahrer sich um Parkplätze stritten, ist nur noch flüchtiges Grüßen geblieben. Abstand halten, Maske tragen oder Kontakte vermeiden, das alles erschwert das gemeinsame Gedenken und Verarbeiten. Als wäre Trauer nicht unerträglich genug, sind viele mit sich und ihren Gedanken allein, weshalb einige öfter als vielleicht notwenig zum Einkaufen kommen.
Kein Hype, Kein Trend
Gemeinsam getragene weiße T-Shirts mit einem Bild und Namen prägten das Bild auf den Straßen. Es war und ist kein Hype oder Trend, dem man sich anschließt. Es ist vielmehr ein weiterer Versuch, gemeinsam zu verhindern, dass dieser Verlust in die Bedeutungslosigkeit des Alltags fällt. Was sonst ein einfacher Verkaufsvorgang war, wurde zum Kraftakt, bei dem viele Tränen flossen. Erinnerungen und Befürchtungen wurden beim Anstehen und Einpacken geteilt. Mitgefühl und Mitleid bestimmten eine Weile lang die Stimmung im Geschäft. „Ein hübscher neuer Laden, nur schade, dass die Tragödie da draußen passiert ist.“
Die neue Fassade ist voll verglast. Die Aussicht reicht weit über den Platz und es ist immer das Bild von Vili zu sehen, das von Kerzen und Blumen umrahmt wird. Die Autos fahren von den davor stehenden Parkplätzen nicht mehr so rasch rückwärts raus wie früher.
Der Frühling kam und der Wind blies die Rumänische und die Deutsche Fahne in die Höhe, bei Regen und Sonnenschein stand Vili’s Bild standhaft da. Die Menschen laufen langsamer vorbei und halten an, sprechen mit den Nächsten, die Ankommen, nehmen sich in die Arme und trösten sich, zünden Ölkerzen an und legen Blumen nieder.
Tulpen, Rosen und Sträuße, die u.a. ich ihnen vor kurzen Augenblicken mit einem Pieps über den Scanner und einem bedächtig verunsicherten Lächeln verkauft habe.
Wenn die Mutter der Getöteten mit mir lacht, weil an einem anderen Tag die Blumen so schön sind, dann lache ich mit ihr. Wenn sie dann an einem anderen Tag wütet, weil „Rassismus ihr Kind genommen hat“ oder dass „es uns alle umstellt und verletzt hat“, dann betrübt es mich ebenso wie die anderen Angehörigen. Nicht zu wissen, wie man sie auch als alte Nachbarn grüßen kann und mit welchen Worten man Trost gibt, ist immer noch ein Lernprozess.
Was ist schon Zeit
Selbst Blumen nieder zu legen, ist mir nur selten gelungen. Es passiert viel eher, dass ich im Stillen an den Gedenkstellen stehe und mich an die kleinen Erlebnisse mit der Mehrzahl der Verstorbenen erinnere. Nun schaue ich nicht mehr zu, wie zu Anfang aus dem Fenster, sondern stehe am aufgestellten weißen Kreuz für Vili und der Gedenktafel. Es sammeln sich verschiedenste Nationalitäten an dieser Stelle, an der andere ihr Leben dafür gaben, weil sie Migrations-Hintergründe haben. Wir stehen ein, für die Liebe, die uns eint, und vertreiben den Hass, der sich auszubreiten versucht. Der Kummer und der Schmerz werden bleiben, aber in Einheit als Gemeinschaft werden alle für einander da sein. Die Vielfalt der Hanauer Bürger wird sich weiter entwickeln und egal welche Herkunft oder Hautfarbe – Hanau ist Heimat.