Offener Brief an die Verantwortlichen in Bund, Land und Stadt: Für soziale Sicherheit und Gerechtigkeit für die Angehörigen der Opfer des rassistischen Terroranschlages am 19. Februar 2020 in Hanau
Hanau, 18. September 2020
Sehr geehrte Damen und Herren in Berlin, Wiesbaden und Hanau!
Niemand kann den Angehörigen der neun Opfer des rassistischen Terroranschlags vom 19. Februar ihre Liebsten zurückbringen. Kein Geld der Welt kann Ihr Leid wieder gutmachen. Doch es erscheint als das Mindeste, dass die Angehörigen materiell abgesichert werden. Das muss oberste Priorität erhalten, wenn es um konkrete Unterstützung für Hanau nach dem rassistischen Terroranschlag geht. Es ist eine Frage der Gerechtigkeit und – neben der lückenlosen Aufklärung – die Grundlage dafür, dass die Familien die soziale Sicherheit bekommen, die sie in die Lage versetzen, in
Ruhe zu trauern und zu versuchen, einen Umgang mit dem Unfassbaren zu finden.
Doch die Situation ist bislang leider eine Andere. Auch sieben Monate nach der Tat ist die soziale Lage der Opferangehörigen inakzeptabel und ungewiß:
— Nach wie vor müssen einige Familien in Hanau-Kesselstadt wohnen, sehr nahe am Tatort und am Täterhaus, weil bislang keine angemessenen Ersatzwohnungen für alle gefunden wurden.
— Nach wie vor ist die finanzielle Absicherung bei den meisten Familien unsicher, weil nicht klar ist, wie die mit der Tat einhergehenden Einkommmensverluste ausgeglichen werden können.
Aus der Politik und in den Medien werden Informationen verbreitet, die ein verkürztes oder sogar verfälschtes Bild ergeben. „Über 1 Million Euro Soforthilfen“ hätten die Angehörigen erhalten – so hieß es in einer Pressemitteilung vom Mai 2020. Damit wurde der Anschein erweckt, dass die Familien der Opfer großzügig entschädigt wurden. Nicht mitgeteilt wurde, dass dieses Geld unter sehr vielen Opferangehörigen sowie physisch und psychisch Verletzten und Überlebenden aufgeteilt wurde und dass dann pro Familie eine Summe übrig bleibt, die keine längerfristige Sicherheit bietet.
Anträge auf Renten beim Versorgungsamt sind bürokratisch und langwierig, ein Durchlaufen dieser Verfahren ist kräftezehrend und ohne professionelle Unterstützung fast nicht möglich. Entscheidungen dauern bis zu zwei Jahren und bringen in der Regel nur einen geringfügigen Zuschuss.
Zusätzliche 600.000 Euro habe das Land Hesses als Sonderprogramm für Hanau bewilligt und – so selbst die Überschrift in der Frankfurter Rundschau im August 2020 – diene der Unterstützung der Angehörigen. Doch das ist mitnichten der Fall. Vielmehr wird diese Summe an beantragende Projekte vergeben, die nicht in Verbindung mit der Versorgung der Familien stehen müssen. Jedenfalls geht von diesem Geld kein Euro unmittelbar an die Opferangehörigen.
Kein Zweifel, mehr antirassistische Projekte sind in jeder Stadt wichtig, auch in Hanau. Aber an erster Stelle der zusätzlichen finanziellen Unterstützung nach dem 19. Februar müssen die dringendsten Bedürfnisse der Familien stehen.
Das heißt konkret: die Wohnungssuche darf nicht an fehlendem Geld scheitern. Für die Familien, die umziehen müssen oder wollen, dürfen keine zusätzlichen Kosten entstehen. Die Differenz zwischen alter und neuer Miete für eine angemessene Wohnung muss von staatlichen Stellen unbürokratisch übernommen werden.
Dasselbe Verfahren muss für den Ausgleich der Einkommensverluste gelten. Die Familien haben Menschen verloren, die zum Familieneinkommen beigetragen haben. Einige Betroffene haben wegen der traumatisierenden Tat ihre Arbeit aufgeben müssen oder sind nun seit Monaten auf Krankengeld angewiesen, mit starken Einbußen für ihren Unterhalt. Auch hier ist es die Pflicht staatlicher Stellen, einzuspringen und unbürokratisch zur finanziellen Absicherung beizutragen.
In diesem Sinne fordern wir alle Verantwortlichen im Bund, in Hessen und in Hanau auf: Schaffen Sie soziale Sicherheit und Gerechtigkeit für die Angehörigen der Opfer des 19. Februar. Ermöglichen Sie eine unbürokratische Ausgleichsfinanzierung für angemessene Wohnungen und für die Einkommensverluste der neun Opferfamilien. Es braucht hier jetzt dringlich Taten statt Worte.
Initiative 19. Februar Hanau, Hanauer Hilfe, Welle gGmbH, Zentrum für Traumapädagogik Hanau, Response – Beratung für Betroffene von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (Hessen), ein Angebot der Bildungsstätte Anne Frank