»Das ist eine Katastrophe, die auf die eigentliche Katastrophe folgt«
Bei uns im Juz – so nennen wir unser Jugendzentrum – hat sich vor Jahren ein Ritual eingebürgert, das allen sehr wichtig ist: Zur Begrüßung geben wir uns die Hand.
Auch die älteren Jungs, die nur zum Billard spielen kommen, gehen als erstes zu uns Sozialarbeitern für einen kurzen Handschlag und ein Schwätzchen. Wir sind ein großes Jugendzentrum, bieten Hilfe bei den Hausaufgaben an, haben einen Tischtennisraum, PC-Arbeitsplätze, eine Boxhalle im Keller, einen Garten mit Basketballfeld und eine Küche, in der fast jeden Abend eine Gruppe gemeinsam kocht. An normalen Tagen kommen etwa 80 Jugendliche zu uns. Das sind 80 Handschläge. Seit den Morden sind daraus Umarmungen geworden. So viel umarmt wie in den letzten Wochen haben wir uns noch nie.
Unser Juz liegt genau zwischen dem Kurt-Schumacher-Platz, wo sechs Menschen erschossen wurden, und dem Haus des Täters. Man läuft keine Minute dorthin. An dem Abend muss der Täter bei uns vorbeigefahren sein, als wir gerade das Juz abschlossen. Das war um kurz nach 22 Uhr. Fünf der sechs Opfer kennen wir persönlich, drei von ihnen waren regelmäßig bei uns. Der Ferhat sogar jeden Tag. Ein paar Minuten, bevor er starb, habe ich ihm im Juz noch ein Würstchen im Brot in die Hand gedrückt und ihn dann verabschiedet. Die Schüsse habe ich nicht gehört, aber als ich im Auto saß, auf dem Weg nach Hause, habe ich mich über die Polizeiautos auf dem Kurt-Schumacher-Platz gewundert und bin ausgestiegen. Die Opfer lagen noch auf dem Boden. Wenn sie die Gesichter kennen und das Blut sehen, dann gehen sie nicht unbeschadet aus so einer Situation raus.
Alle unsere Jugendlichen sind nun traumatisiert. Viele waren mit den Opfern befreundet oder verwandt. Einige haben die Anschläge miterlebt. Auf dem Kurt-Schumacher-Platz aber auch in der Innenstadt. Zufällig saßen ein paar unserer Jungs dort in der Shisha-Bar, in der auch geschossen wurde. Drei Jugendliche, die wir gut kennen, wurden verletzt. Die Verflechtungen sind so vielfältig.
Ich arbeite seit 1999 im Juz und mag das Viertel, obwohl es nicht den besten Ruf hat. Viele Menschen hier sind arm. Die Hochhäuser, in denen sie leben, wurden in den Siebzigerjahren am Reißbrett als Sozialbausiedlung entworfen. Trotzdem ist die Hanauer Weststadt nicht Neukölln oder ein Banlieue bei Paris. Es gibt einzelne Brennpunkte, aber der Stadtteil insgesamt ist keiner. Zur Nachbarschaft gehören auch kleinbürgerliche Reihenhäuser und Villen. Im Juz interessiert es niemanden, woher die Eltern stammen: aus der Türkei, Afghanistan, Italien, Rumänien, Russland, Marokko oder Tunesien. Die Integration funktioniert gut. Nur mit den Deutschen aus den Reihenhäusern haben unsere Jugendlichen fast keinen Kontakt. Woran das liegt? Gute Frage. Das ist schon in den Kitas und Grundschulen so.
Hier in der Weststadt haben die Jugendlichen eher kleine Wünsche: eine gute Arbeit, ein regelmäßiges Einkommen, eigene Kinder, eine glückliche Ehe. Natürlich gibt es auch die Gangster-Rapper-Fraktion, die so werden wollen wie Haftbefehl, der stammt ja hier aus der Gegend. Aber die meisten wären schon mit einer Festanstellung bei Aldi zufrieden. Uns Sozialarbeiter freut es am meisten, wenn wir sehen, dass es jemand aus ganz schwierigen Verhältnissen schafft. Einer unserer Jungs ist mit mehr als zehn Geschwistern in einer beengten Wohnung groß geworden, die Familie hatte sehr wenig Geld. Nun leitet er als Servicetechniker bei der Bahn Arbeitsgruppen an und verdient doppelt so viel wie ich. Und im Juz kümmert er sich um unser Fußballteam.
Ich glaube, für viele Jugendliche sind wir ein Familienersatz. Wir kennen sie, seit sie mit acht oder zehn Jahren das erste Mal zu uns gekommen sind, als kleine Dreikäsehochs. Wir sprechen mit ihnen über Probleme in der Schule, über Akne, aber sie erzählen uns auch, wenn es zuhause Stress gibt. Wenn Papa haut. Häusliche Gewalt ist hier schon ein Thema. Auch Fehl- und Mangelernährung und Sucht. Die Jugendlichen sind offen zu uns, weil sie uns zu ihrem persönlichen Umfeld zählen. Die meisten duzen uns, manche nennen mich Herr Günther. Ich rede mit ihnen nicht wie eine pädagogische Fachkraft der Stadt, sondern kumpelhaft, fürsorglich.
Es gibt Eltern, die nicht wollen, dass ihre Kinder sich bei uns treffen. Weil vor dem Juz, auf den Bänken im Hof, die älteren Jungs manchmal Alkohol trinken und rauchen. Nicht nur Zigaretten. Wir Sozialarbeiter können das nicht verhindern. Und wir wollen die Jugendlichen nicht wegschicken. Letztlich sind wir deren Interessenvertretung: Wir ergreifen Partei für sie, nicht für die Eltern. Die allermeisten zahlen es uns mit Vertrauen und Achtsamkeit zurück. Obwohl so viele Menschen jeden Tag im Juz sind, gibt es zum Beispiel kaum Vandalismus. Der Basketballkorb im Garten hängt dort seit 15 Jahren.
Wir haben Hilfe organisiert, traumatherapeutische Beratung, die im Juz stattfand, in gewohnter Umgebung, auch das war sehr wichtig. Seit dem 13. März ist das alles vorbei
Natürlich denke auch ich manchmal: Lasst mich in Ruhe! Ich mag nicht jeden, der bei uns zur Tür reinkommt, automatisch. Aber in den meisten Momenten freue ich mich auf meine Arbeit. Ich bin kein Familienmensch, wollte nie eigene Kinder haben. Du brauchst auch keine, du hast ja uns, sagen sie im Juz manchmal.
Nach dem Anschlag habe ich an mir selbst Symptome eines Traumas beobachtet. Morgens konnte ich keinen klaren Gedanken fassen, nachmittags war ich hyperaktiv. Vielen Jugendlichen ging es natürlich deutlich schlechter. Sie weinten, brachen zusammen. Wir sahen auch eine Zunahme von selbstverletzendem Verhalten: Manche haben so doll gegen Türen geschlagen, dass ihre Hände bluteten.
Wir waren dann jeden Tag im Juz, auch an den Wochenenden. Haben mit den Jugendlichen gemeinsam getrauert und sind immer wieder zu den Gedenkorten gegangen, haben Kerzen entzündet. Wir waren auch gemeinsam auf den Demonstrationen in der Innenstadt. Dieser Zusammenhalt war wichtig für uns alle. Auch für mich. Natürlich habe ich mit meinen Freunden über den Anschlag gesprochen, und natürlich waren die unendlich betroffen. Aber niemand kann die Situation so nachfühlen, wie die, die dabei waren.
Wir haben Hilfe organisiert, traumatherapeutische Beratung, die im Juz stattfand, in gewohnter Umgebung, auch das war sehr wichtig. Seit dem 13. März ist das alles vorbei. Unser Juz wurde geschlossen, wegen Corona. Das ist eine Katastrophe, die auf die eigentliche Katastrophe folgt. Weil das einzige, was hilft, sich gemeinsam zu trösten, sich gemeinsam zu stärken, nicht mehr möglich ist. Die Jugendlichen kamen ja aus gutem Grund zu uns. Viele wohnen in beengten Verhältnissen. Viele Eltern wissen nicht, wie sie mit ihren Kindern nun umgehen sollen. Die sollen nun allein mit ihrem Trauma klarkommen? Ich weiß nicht, wo das noch hinführt.
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Günther Kugler ist seit 20 Jahren Sozialarbeiter im Jugendzentrum Juz k-town in Kesselstadt. Viele der Jugendlichen, die ihre Nachmittage hier verbringen, haben den rassistischen Anschlag am 19. Februar miterlebt und dabei Freunde verloren.
(erschienen in Süddeutsche Magazin, 27.3.20. Günther ist Teil unserer Initiative 19. Februar Hanau)